Erntedank zwischen Markt und Moral

EKD-Agrarbeauftragter Dirscherl über das „Geben und Nehmen“ der Ernte

03. Oktober 2014

Maiskolben vor einer Holzwand


Die Ernte ist schon immer ein Marktgeschehen. Das betont der Beauftragte des Rates der EKD und Geschäftsführer des Evangelischen Bauernwerks in Württemberg, Clemens Dirscherl. Ohne die Wertschätzung der Erntegaben und der eigenen Rolle, die man dabei spielt, sei eine Wertschöpfung am Markt kaum möglich. „Von daher sind Landwirtschaft und Verbraucher über das Erntedankfest eng miteinander verbunden.“

Ein Kommentar von Clemens Dirscherl:

Jetzt stehen sie wieder an: die Kanzelreden und Ansprachen zum Erntedankfest. Landwirte werden konfrontiert mit ihren Versäumnissen, was sie alles hätten besser machen können: mehr Tierschutz, mehr Wasser-, Boden- und Artenschutz durch weniger düngen und spritzen und natürlich mehr Klimaschutz – kurzum: der Bauer soll doch im Einklang mit der Natur wirtschaften, eben seiner Verantwortung für Nachhaltigkeit entsprechen. Auch den Verbrauchern wird ins Gewissen geredet: sie sollen auf Qualität achten, regional und saisonal einkaufen, beim Preis sich nicht von den Dumping-Angeboten des Handels verlocken lassen – eben auch ihrer Verantwortung für Nachhaltigkeit gerecht werden. Da wird viel von Moral gepredigt und geredet, was den Kirchenräumen und festlich geschmückten Sälen erst den passenden andächtigen Rahmen verleiht.

Tatsächlich war die Ernte historisch schon immer, und ist sie bis heute, ein Marktgeschehen: Bauern ernten und verkaufen. Verbraucher kaufen dann die Erntegaben weniger direkt im Rohzustand, sondern in aufbereiteter bzw. verarbeiteter oder „veredelter“ Form, wie der Branchenslang sagt. Gibt es eine große Apfelernte – wie dieses Jahr – dann fallen die Preise und die moralisch integren Obstbauern stehen verbittert vor ihrer Ernte, weil sie mit ausländischer Ware preislich nicht konkurrieren können.

Ernte ist ein Geben und Nehmen; deswegen sprechen wir auch von den Erntegaben. Am Markt haben die Beteiligten, nämlich Erzeuger wie Verbraucher, ihre eigene Aufgabe mit diesen Erntegaben umzugehen: materiell als Anbieter und Nachfrager von Waren, finanziell über die entsprechende Preisgestaltung. Das macht den Marktwert aus. Erntedank erfüllt ebenfalls eine Aufgabe: sich über den Marktwert hinaus über Lebenswerte Gedanken zu machen. Das ist die Verknüpfung zwischen Markt und Moral: Geht es bei Lebensmitteln nur noch um den rein sachlichen Marktwert, oder spielen da noch andere Werte eine Rolle – eben wie diese Lebensmittel hergestellt wurden, wo sie herkommen, welche Folgen der Produktionsprozess für Tiere, Boden, Wasser, Biodiversität, Klimaveränderung, aber auch für Menschen hier und weltweit hat und hatte. Danken und Denken ist in einem Zusammenhang zu sehen.

Das bedeutet anzuerkennen, dass Lebensmittel Gaben sind, die uns in unserer Funktion als Verbraucher auch eine Aufgabe zuweisen: ihren materiellen, finanziellen und Arbeits-Wert zu schätzen. Auch die Landwirtschaft muss noch mehr anerkennen, dass sie nicht mit x-beliebiger Ware hantiert, sondern Lebensmittel herstellt, welche von Seiten des Verbrauchers mit größter Sensibilität begutachtet werden; mögliches Fehlverhalten wird mit sofortiger öffentlicher Skandalisierung bestraft.

Es geht also am Erntedankfest um die Anerkennung nicht nur der Erntegaben als sachliche Objekte, sondern auch der eigenen Rolle, die damit verbunden ist. Voraussetzung ist zunächst einmal Selbst-Erkenntnis über diese Aufgabe, die man hat. Das schließt Verantwortung ein. Ohne Wertschätzung der Erntegaben und der eigenen Rolle, die man dabei spielt, ist eine Wertschöpfung am Markt kaum möglich. Von daher sind Landwirtschaft und Verbraucher über das Erntedankfest eng miteinander verbunden. Nicht nur materiell als Anbieter und Nachfrager von Waren, sondern auch über eine besondere Verantwortung für unsere Lebensgrundlagen und die nachfolgender Generationen. Verbraucherethik geht einher mit Landwirtschaftsethik. Wird dies anerkannt von allen Akteuren am Markt, auch von Agrar- und Ernährungswirtschaft sowie Lebensmittelhandel, dann können wir das hohe Lied der Nachhaltigkeit zum Erntedankfest singen.