Volkskrankheit und immer noch ein Tabu

Kirchengemeinden können depressiven Menschen helfen

20. August 2014

Traurige junge Frau vor einem Fenster

Antriebsschwach, niedergedrückt, freudlos - das kennzeichnet die Gemütslage depressiver Menschen. Was für Gesunde nur ein vorübergehender Stimmungszustand für Stunden oder Tage ist, wächst sich bei Depressiven zu einer monatelangen Lebenskrise aus. Vier Millionen Menschen in Deutschland sind davon betroffen - mehr als von Alkoholismus. Ein Tübinger Projekt hat erprobt, was Kirchengemeinden gegen Depression tun können. Die Ergebnisse liegen jetzt in Buchform vor.

Depression kann tödlich ausgehen. Am Ende der langen Phase finsterer Stimmung liegt oft die Selbsttötung. So war es offenbar auch bei US-Schauspieler Robin Williams. Fast jeder dritte der geschätzten 150.000 Suizidversuche pro Jahr in Deutschland entfalle auf Menschen mit einer diagnostizierten Depression, schreibt der Tübinger Psychiater Gerhard Eschweiler.

Meistens hat die Krankheit einen Auslöser: Arbeitslosigkeit, Trennung, Tod eines geliebten Menschen, aber auch ein Herzinfarkt oder eine Infektion. Besonders gefährlich ist es laut Eschweiler, Trauerreaktionen zu verdrängen. Das könne nach einigen Wochen zu einer lange anhaltenden Depression führen.

Grundsätzlich gilt dem Experten zufolge: Depression ist heilbar. Gegenmaßnahmen können ein Kontrastieren negativer Gedanken sein, aber vor allem auch körperliche Betätigung wie Gartenarbeit, Sport, Bewegung an der frischen Luft. Für schwerere Fälle empfiehlt Eschweiler die Gabe von Antidepressiva, die entgegen landläufiger Meinung nicht abhängig machten. Auch eine Therapie mit hellem Licht am Morgen könne helfen, schreibt der Experte.

Dass Depressionen in den vergangenen Jahren zugenommen haben, führen die evangelische Theologin Birgit Weyel und die Ärztin und katholische Theologin Beate Jakob vor allem auf gesellschaftliche Veränderungen zurück. Beschleunigung des Lebens, wachsender Leistungsdruck am Arbeitsplatz, höhere Mobilität verbunden mit dem Gefühl der Heimatlosigkeit und Entwurzelung. Das werde noch verstärkt, wenn familiäre Bindungen nicht mehr tragen: "Ein geglücktes und von Erfolg gezeichnetes Leben wird zum Projekt einzelner und von Familien - und das Scheitern ist nicht vorgesehen."

Warum sollten Kirchengemeinden Orte gegen die Depression sein? Den Mitarbeitern des Projekts zufolge können Gemeinden zu "inklusiven Gemeinschaften" werden, die Kontaktmöglichkeiten schaffen, durch Informationsabende die Krankheit enttabuisieren und vielleicht sogar Selbsthilfegruppen anbieten. Im Tübinger Projekt wurde konkret in zwei Gemeinden eine Serie von Maßnahmen ausprobiert, wie man sich auf depressive Menschen einstellen kann.

Die Autoren des Buchs bieten dazu nun eine ganze Materialsammlung an. Gottesdienste, Kurzandachten und Vortragsabende können sich dem Umgang mit Depressionen widmen, auch in der Konfirmandenarbeit und in der Seelsorge sollte es ein Thema sein. Ziel ist es, die Gemeinde zu einem Raum zu machen, in dem Depressionen nicht verschwiegen werden müssen und Betroffene auf ein hilfreiches Klima treffen. Die Gemeinde soll ein Ort der Heilung werden.

Den christlichen Glauben betrachten die Autoren allerdings nicht pauschal als Antidepressivum. Er helfe, wenn Menschen ein positives Gottesbild hätten und auch in ihrer Krankheit ihre Sorgen bei Gott abgeben könnten. Deshalb verlaufe bei Menschen mit höherer Religiosität die Genesung von einer Depression günstiger. Wenn allerdings mit dem Glauben vor allem Schuld, Machtlosigkeit und Sündhaftigkeit verbunden würde, könne das Depressionen sogar verstärken. (epd)

Literaturempfehlung:
Birgit Weyel, Beate Jakob (Hg.): Menschen mit Depression. Orientierungen und Impulse für die Praxis in Kirchengemeinden. Gütersloher Verlagshaus 2014.  17,99 Euro