"Die Zeit hat mich sehr geprägt"

Das Freiwillige Soziale Jahr feiert seinen 50. Geburtstag

29. April 2014

Ingrid Quitt leistete 1956 als 17-Jährige ihren Dienst in einem Kinderheim in Kempten.

Der Startschuss fiel 1954: Ein Theologe rief junge evangelische Frauen zur freiwilligen sozialen Arbeit auf. Daraus wurde später das Freiwillige Soziale Jahr - der Beginn einer Erfolgsgeschichte.

Neuendettelsau (epd). Sie selbst ist von ihrem Vater damals völlig überrascht worden. "Er hat davor mit mir und meinen Geschwistern überhaupt nicht darüber gesprochen, was er vorhat", berichtet Erika Geiger. Und dennoch war die heute 77-Jährige von der Idee sofort hellauf begeistert, die Hermann Dietzfelbinger 1954 in einem Vortrag propagierte.

Der damalige Rektor der Diakonissenanstalt im mittelfränkischen Neuendettelsau - später bayerischer Landesbischof sowie EKD-Ratsvorsitzender - rief junge evangelische Frauen auf, sich ein Jahr in der Kranken- oder Altenpflege zu engagieren. Der Appell und das Diakonische Jahr wurden zu einem großen Erfolg. Das daraus resultierende Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) wurde zehn Jahre später gesetzlich geregelt. An diesem Dienstag wird in Neuendettelsau mit einem Gottesdienst, an dem auch der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider teilnimmt, und einer Feier der 50. Geburtstag des Freiwilligendienstes begangen.

"Es war eine Reaktion auf den Pflegenotstand, den es damals schon gab. Aber dass das so weite Kreise ziehen würde, damit hat mein Vater überhaupt nicht gerechnet", sagt Geiger. Zu verdanken habe er den großen Zuspruch vor allem dem Nürnberger Pressepfarrer Martin Lagois, der den Aufruf sowohl in den kirchlichen als auch in den weltlichen Blättern platziert habe.

36 Mädchen folgten laut der Diakonie Neuendettelsau im ersten Jahr dem Aufruf, 1960 meldeten sich bereits 500 Freiwillige. Derzeit leisten bundesweit mehr als 51.000 junge Menschen ein FSJ, gemeinsam mit dem Freiwilligen Ökologischen Jahr und dem Bundesfreiwilligendienst beläuft sich die Zahl der Freiwilligen in Deutschland sogar auf mehr als 100.000.

Erika Geiger war eine der ersten, die sich auf diese Weise für die Gemeinschaft engagierten. "Ich war beim Aufruf meines Vaters dabei und habe mir sofort gedacht: Das mache ich auch", erzählt sie. Nach Abschluss ihres Abiturs begann sie 1956 als 19-Jährige ihre Arbeit in der Klinik Hallerwiese in Nürnberg.

Spritzen geben, Betten machen, Patienten heben und tragen - und das zehn Stunden am Tag für 40 Mark Taschengeld: "Man hat gelernt, hart zu arbeiten. Man hatte nur einen Nachmittag in der Woche und einen Sonntag im Monat frei", berichtet Geiger, die zwar aufgrund der Arbeit mit einem Medizinstudium liebäugelte, dann aber Lehrerin wurde. Diakonissen arbeiteten ihr ganzes Leben unter diesen Bedingungen, betont sie, wenn gleich im Laufe der Jahre schon sehr viel verbessert worden sei.

"Eine 40-Stunden-Woche zu fordern, hat damals niemand gewagt", bestätigt der 77 Jahre alte Heinz-Joachim Frank, der 1958 einer der ersten männlichen Freiwilligen war und mit dem Dienst die Zeit bis zu seinem Theologie-Studium überbrückte. Er habe sich gemeinsam mit einem Pfleger in der Pflegeanstalt Bruckberg um rund 30 körperlich und geistig Behinderte gekümmert und in den ersten 14 Tagen mehrmals daran gedacht, die Koffer zu packen.

"Ich habe zuvor zwei Jahre in einer Fabrik gearbeitet und war auf den Umgang und die Anforderungen in Bruckberg überhaupt nicht eingestellt", blickt er zurück. Geholfen hätten ihm vor allem der Zusammenhalt und die Gespräche bei langen Spaziergängen mit Diakonischen Helferinnen und Diakon-Anwärtern.

Im Rückblick ist Frank sehr froh, nicht aufgegeben zu haben: "Die Zeit hat mich sehr geprägt. Ich habe auch mit dem Gedanken gespielt, Erzieher zu werden, statt Theologie zu studieren." Auch über das Diakonische Jahr hinaus habe er den Kontakt nach Bruckberg gehalten und später noch mehrere Praktika in sozialen Einrichtungen gemacht.

Auch Ingrid Quitt hebt die Bedeutung ihres Freiwilligendienstes für ihr weiteres Leben hervor. Sie habe sehr viel aus ihrer Tätigkeit in einem Kinderheim in Kempten mitgenommen, in dem sie 1956 als 17-Jährige ihren Dienst leistete: "Das hat mich vor allem Gelassenheit und Disziplin gelehrt. Wenn man einmal pro Woche einen riesigen Eimer mit den Strümpfen von 30 Kindern mit der Hand waschen muss, bekommt man Geduld."

Für das Freiwilligenjahr, auf das sie durch Dietzfelbingers Bruder aufmerksam gemacht wurde, gab sie sogar ihren Bürojob auf. Von der Arbeit im Kinderheim habe sie zwar keine Ahnung gehabt, aber aufgrund der guten Betreuung durch die Diakonissen habe sie sich sehr gut aufgehoben gefühlt. Sie rate daher jedem jungen Menschen, sich ein Jahr für die Gemeinschaft zu engagieren. (epd)