„Es herrschte Totenstille im Saal“

Augenzeugen erinnern sich an den Frankfurter Auschwitz-Prozess vor 50 Jahren

26. Januar 2014

Häftlinge im KZ Auschwitz

„Wenn Sie in den Saal kamen, saßen da ganz normale Bürger: Kassierer, Kioskbetreiber, Apotheker“, erinnert sich Gerhard Wiese an die Angeklagten des ersten Auschwitz-Prozesses vor 50 Jahren. Der 85-Jährige war einer der drei Staatsanwälte, als am 20. Dezember 1963 die Hauptverhandlung der „Strafsache gegen Mulka und andere“ in Frankfurt am Main begann. Exportkaufmann Robert Mulka (1895-1969), als früherer Adjutant des Lagerkommandanten Rudolf Höß dessen rechte Hand, brachte gegen die Anklagevertreter vor: „Ich war deutscher Offizier und habe nichts Strafbares getan“, wie Wiese erzählt.

Keiner der 22 Angeklagten vor Gericht habe Reue gezeigt oder Angehörige von Opfern um Entschuldigung gebeten, berichtet er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der frühere Rapportführer im KZ Auschwitz, Oswald Kaduk, sprang bei Fragen des Gerichts auf, nahm Haltung an und sagte: „Nein, das habe ich nicht getan, Herr Vorsitzender!“. Vor seiner Festnahme sei Kaduk als Pfleger in einem Berliner Krankenhaus unter dem Rufnamen „Opa Kaduk“ beliebt gewesen. In Auschwitz hatte Kaduk nach Augenzeugenberichten Häftlinge erschlagen, erdrosselt, erschossen und zu Tode getrampelt.

„Der ganze Prozess war tief beeindruckend“, erinnert sich Christian Raabe (78), der Rechtsanwalt war und Angehörige von Opfern als Nebenkläger vertrat. Die Täter seien in Auschwitz als Beamte oder Soldaten aufgetreten und hätten dabei „die widerlichste Mordmaschinerie“ betrieben.

Dass es überhaupt zu dem ersten großen Prozess der deutschen Justiz gegen Naziverbrecher kam, ist der unbeugsamen Beharrlichkeit des damaligen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (1903-1968) zu verdanken. Der Präsident des Frankfurter Landgerichts und der Leiter der Frankfurter Staatsanwaltschaft seien von einem „Mammutverfahren“ nicht begeistert gewesen und hätten versucht, den Prozess von sich fernzuhalten, erzählt Wiese. Doch Bauer konnte sich durchsetzen.

Er hatte eine Liste mit rund 100 Täter-Namen von einem Journalisten der „Frankfurter Rundschau“ zugespielt bekommen und ließ damit die Zuständigkeit des Frankfurter Landgerichts durch den Bundesgerichtshof herbeiführen. Die Gerichtsverhandlungen hatten „hitzigen Charakter“, wie Raabe berichtet. Der Wortführer der Verteidigung, Rechtsanwalt Hans Laternser, sei Zeugen der Anklage „aggressiv und zynisch, fast beleidigend angegangen“. „Wenn wir Nebenkläger den Rotzigkeiten nicht Paroli geboten hätten, wäre es für das Gericht nicht einfach gewesen“, urteilt Raabe.

Am stärksten bewegt hat Wiese die Aussage des Zeugen Mauritius Berner. Der Arzt war mit seiner Frau und seinen drei Töchtern nach Auschwitz transportiert und dort an der Rampe von seiner Familie getrennt worden. Berner berichtete, wie er unter denen, die die Ankömmlinge selektierten, den Apotheker und früheren IG-Farben-Vertreter Victor Capesius in SS-Uniform erkannte. Er bat den Leiter der SS-Apotheke in Auschwitz, bei seiner Familie bleiben zu dürfen. Vergeblich. Berner sah seine Frau und Kinder nie wieder. „Es herrschte Totenstille im Saal“, sagt Wiese.

Nach 183 Verhandlungstagen am 20. August 1965 endete der erste Auschwitz-Prozess. Sechs Angeklagte wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, weitere erhielten Freiheitsstrafen, drei wurden freigesprochen. Die Wirkung des Prozesses beurteilen Raabe und Wiese unterschiedlich. Die Zuschauerränge seien immer voll gewesen, zu Beginn und zu Ende hätten viele Medienvertreter die Verhandlung besucht. Unter den Zeitgenossen „waren einige interessiert, einige gleichgültig, und einige fragten: Warum das jetzt noch?“, zeigt sich Wiese eher skeptisch bezüglich der Öffentlichkeitswirksamkeit. Die Enkelgeneration heute sei interessierter an der Aufarbeitung der NS-Zeit als die Nachkriegsgesellschaft damals.

Rechtsanwalt Raabe hingegen ist davon überzeugt, dass der Prozess eine große Wirkung auf die Gesellschaft ausübte. Die Absicht von Generalstaatsanwalt Bauer, das Volk über die Nazi-Verbrechen aufzuklären, sei bei großen Teilen der Bevölkerung aufgegangen: „Zur Verarbeitung der NS-Verbrechen hat dieser Prozess viel beigetragen“. (epd)