Christfest in schwerer Zeit

Weihnachten 1931 in Russland

22. Dezember 2012

web470_edith_pfeiffer_1949

Die Rußlanddeutsche Edith Müthel (geb. 1919) erlebt früh, was es bedeutet, Tochter eines Volksfeindes zu sein. Für die Pfarrerstochter beginnen mit der Verhaftung ihres Vaters, eines Pfarrers, durch die Schergen Stalins, Jahre der Angst und Verzweiflung. Zusammen mit ihrer Mutter und den Geschwistern wird Edith aus ihrem Heimatdorf an der Wolga nach Sibirien deportiert. Kälte und Hunger, schwerste Arbeit, Willkür und Diskriminierung prägen seither ihr Leben. Doch die Sorge um ihre Familie und der tiefe Glaube an Gott lassen sie alle Widrigkeiten aushalten. Nach Stalins Tod kann sie in Leningrad (heute: St. Petersburg) ein neues Leben beginnen und findet während der Jahre der Perestroika in der wiedergegründeten evangelischen Gemeinde Geborgenheit und gute Freunde.

In dem Kapitel „Das letzte Weihnachtsfest in Norka“ beschreibt Edith Müthel eindrücklich die Weihnachtsfreude im Jahr 1931, die zugleich im scharfen Kontrast zu der bedrückten Stimmung in dem schwer von der stalinistischen Zwangskollektivierung betroffenen Dorf steht:

Der Winter 1931/32 war schneereich. Unaufhörlich schneite es schon viele Tage. Die Häuser von Norka waren hinter Schneewehen versteckt. Die Heilige Nacht nahte. Den Himmel verhüllten schwere Wolken, Mond und Sterne waren verborgen.

In der Mitte des Dorfes stand die schöne große Kirche. Der Kirchturm mit dem Kreuz verlor sich im Nebel der fallenden Schneeflocken und der tiefhängenden grauen Wolken. Aus den hohen Fenstern floss kein Licht brennender Weihnachtskerzen, schwarz blickten sie auf die verschneite Welt. Kein Gesang erklang aus der Kirche, kein Lied der Gemeinde, kein Chor von Kinderstimmen, die hell und freudig Weihnachtslieder sangen. Die Orgel schwieg. Der Kirche gegenüber stand wie ein verschneites Gerippe der Glockenstuhl – die drei großen Glocken aber luden die Gemeinde nicht zum Gottesdienst am Heiligen Abend ein. Schweigend überblickten sie das große Dorf – es war wie ausgestorben. Schlief Norka etwa in dieser Heiligen Nacht? Nein. Aus den Fenstern der stillen Häuser und Hütten sickerte durch die vom Frost wunderbar bemalten Scheiben schwaches Licht. Norka schlief nicht! Es feierte Weihnachten. In den Stuben und Stübchen war es warm und gemütlich. Die Familien versammelten sich im engen Kreise. Nicht alle Familien waren in dieser Nacht vollzählig. Manchmal fehlte der Vater, Sohn oder der Bruder. Wo waren sie in dieser Heiligen Nacht? Im hohen Norden oder in Sibirien. Lebten sie überhaupt noch? Oder hatten sie in der Verbannung den Tod gefunden? Niemand wusste es. Nur die Hoffnung, sie wiederzusehen, war wach und der Glauben an Gott, dass er die aus der Familie Gerissenen nicht vergaß. Dass er sie durch alle Stürme führen und ein Wiedersehen mit der Familie ermöglichen würde.

Die Einwohner von Norka sangen in ihren Stuben Weihnachtslieder und beteten, die Kinder schmiegten sich mit gefalteten Händen an die Eltern und Großeltern. Nach einem kleinen Familiengottesdienst wurde vom Ältesten der Familie das Tischgebet gesprochen. Es gab ein bescheidenes Festmahl, dieses Jahr fiel es wirklich sehr bescheiden aus. Die Lebensmittel mussten noch bis zur neuen Ernte reichen. Die Ställe waren fast leer, es gab nur eine Kuh, wo früher drei bis vier gestanden hatten, nur zwei bis drei  Schafe und, wenn es besonders gut war, ein Schwein. Keine Pferde und Ochsen. Das Vieh war mit dem Bauer in die Kollektivwirtschaft eingetreten – man hatte es abliefern müssen. Auch das Ackerfeld gehörte jetzt dem Kolchos. Die Bauernschaft war eingegangen.

So geheim, im engen Familienkreis hinter verschlossenen Türen feierte man 1931 in Norka Weihnachten.

Auch unsere Familie feierte das Christfest heimlich. Wir aßen zusammen mit Mutter, in diesem Jahr zum ersten Male ohne Vater. Er hatte eine Amtsreise nach Saratow angetreten, wo in der St. Marienkirche noch der Heilige Abend gefeiert wurde und die Glocken noch zu Weihnachten läuteten.

Ohne Vater fühlten wir uns sehr einsam und verlassen. Dennoch machten wir es uns so gemütlich wie möglich. An diesem Abend war es im Zimmer schön warm, der Ofen war gut beheizt. In die Mitte des Tisches, der mit einem Festtischtuch bedeckt war, hatte Mutter auf eine Erhöhung einen Weihnachtskaktus gestellt. Den „Sockel“ hatte sie mit weißem Krepppapier umhüllt, so entstand eine Schneedecke.

Fünf „bunte Teller“ standen auf dem Tisch. Mutter hatte etwas Süßes hervorgezaubert und Weihnachtsgebäck auf die Teller gelegt. Für Haselnüsse hatte Vater vorgesorgt, sie wuchsen in den Wäldern an der Wolga. Unsere kleinen Weihnachtsgeschenke legten wir daneben. Es waren sehr bescheidene, einfache Geschenke. Nur der kleine Bruder bekam seine ersten Schlittschuhe. Die Freude war groß. Auch Mutti war zufrieden. Jeder hatte an den anderen mit Liebe gedacht.

Um den mit Blüten übersäten Kaktus standen Weihnachtskerzen. Der Docht der Öllampe war heruntergeschraubt. Das Licht der Kerzen beleuchtete das einfach eingerichtete Zimmer, den festlichen Tisch und unsere erwartungsvollen Kindergesichter.

Wir beteten zusammen mit Mutter, dann sangen wir Weihnachtslieder: „Stille Nacht“, „O du fröhliche“, „Süßer die Glocken“, „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, „Ihr Kinderlein kommet“, „Kling, Glöckchen, kling“ und zuletzt „Welchen Jubel, welche Freude“.

Es verklang der letzte Vers:
„Doch nur kurz sind solche Freuden,
Bald verlöscht der Kerzen Licht.
Jesus kann allein bereiten
Freuden, die vergehen nicht.“

Auch der Glanz unserer Kerzen war verlöscht. Mutter sprach das Tischgebet und wir setzten uns zum bescheidenen, aber feierlichen Abendbrot.

Wir waren müde von der Spannung der vorhergehenden Wochen. Wie überall in Norka hatten auch wir reingemacht, gescheuert, gewaschen, gebügelt. Dieser Tag war anstrengend gewesen für uns, besonders wohl für Mutti. Sie brachte uns zu Bett. Kniend beteten wir in unseren Bettchen mit Mutti zusammen das Vaterunser und sangen „Müde bin ich, geh zu Ruh“. Dann schliefen wir, bewacht
vom Himmlischen Vater und geborgen in der Liebe unserer Mutter, ruhig ein.

Ob unsere Mutter noch lange mit gefalteten Händen an unseren Betten gesessen hat, über das Schicksal ihrer Kleinen grübelnd? Eine Ahnung schwerer Zeiten lag Weihnachten 1931 in der Luft. Ob Mutter an diesem Abend, an dem die Zukunft aller unsicher war, zu Gott gerufen und für uns, ihre Kinder und für unseren Vater Schutz und Segen erbeten hat? Wir wissen es nicht. Ruhig und traumlos schliefen wir in dieser Nacht.

Der Weihnachtskaktus ist für mich bis heute wie ein Funken Hoffnung, wie ein Strahl Liebe, wie Licht des Glaubens an Jesus Christus fürs Leben. Wann immer möglich steht ein Weihnachtskaktus auf meinem Fensterbrett.


Edith Müthel:
An Gottes Hand. Eine deutsch-russische Lebensgeschichte

Herausgegeben von der Frauenarbeit im GAW, Verlag des Gustav-Adolf-Werks, Leipzig 2012, ISBN 978-3-87593-121-1, Klappenbroschur, 184 Seiten, Preis 9,50 Euro (zzgl. Versand), Bestellungen: verlag@gustav-adolf-werk.de.