Gospel hinter Stacheldraht

Im Gefängnis-Chor gewinnen Häftlinge Selbstvertrauen zurück

21. Juli 2012

Gefängnispastor Gerhard Dierks (M) mit Mitgliedern des Gospelchors der Justizvollzugsanstalt Sehnde.

Seine Freude am Singen ist Ingolf H. anzusehen, wenn er aus voller Brust auf Englisch zum "Halleluja" ansetzt. "Der Gospel-Chor ist eine willkommene Abwechslung", sagt er. Der 49-Jährige verbüßt in der Justizvollzugsanstalt Sehnde vor den Toren Hannovers eine mehrjährige Haftstrafe. Doch jeden Sonntag kommt er mit acht Mitstreitern in die Gefängniskirche und singt Gospels. "Es ist einfach etwas anderes, als in der neun Quadratmeter großen Zelle zu sitzen." Auf seine Chor-Leidenschaft ist er ein wenig stolz: "Wir haben über 85 Lieder im Repertoire."

Auch über seine Vergangenheit spricht er offen: Sieben Jahre wegen Totschlags hat er bekommen. "Im Suff hatte ich die Kontrolle verloren." Heute, so beteuert Ingolf H., würde er keinen Tropfen Alkohol mehr anrühren. Die Zeit im Knast habe ihn verändert - und auch gezeichnet. "Vor allem vermisse ich meine Familie." Halt und Kraft fand er im christlichen Glauben, wie er erzählt. "Meine Beziehung zu Gott ist in der Haft noch intensiver geworden." Auf seiner Zelle zünde er von Zeit zu Zeit eine Kerze an und lese in den Psalmen. "In Your Name We are here" singt er im Gospelchor.

Die Songs hat Gerhard Dierks mitgebracht, evangelischer Pastor und Chorleiter. Seit acht Jahren steht er den Häftlingen als Seelsorger zur Seite. Und verschafft den Sängern ein Stück Freiheit im streng geordneten Gefängnisleben, denn Vollzugsbeamte sind während der Proben nicht dabei. Die Gefangenen lernten, sich gegenseitig zu respektieren und sich in eine Gruppe zu integrieren: "Sie stellen hier mitunter ihr eigenes Ego zurück."

In der Gospel-Band, die den Chor begleitet, spielen nur zwei Musiker: Während Dierks zur Gitarre greift, gibt Häftling Sven B. unüberhörbar den Rhythmus vor: Mit großer Leidenschaft wirbelt er auf dem Schlagzeug. "Ich habe einen professionellen Anspruch", sagt der 44-Jährige, auf dessen Konto mehrere Raubüberfälle gehen. Die Taten habe er begangen, um seine Drogensucht zu finanzieren. Er hofft, im Herbst in eine Therapie entlassen zu werden.

Sven B. bezeichnet sich selbst als "zweifelnden Christen". Er ist sich sicher, dass Gott an einigen Stellen seines Lebens "die Hände im Spiel" gehabt haben müsse. "Und in mir habe ich die tief verwurzelte Vorstellung, dass es nach dem Tod etwas geben muss." In den vergangenen beiden Jahren habe er sich intensiv mit den Themen Schuld und Verantwortung auseinandergesetzt. Der Gefängnisseelsorger und die Musik seien ihm wichtige Stützen gewesen, das auszuhalten.

Dierks bezieht in die Chorarbeit bewusst die Welt außerhalb der Gefängnismauern ein, in die die Gefangenen eines Tages entlassen werden: In Zusammenarbeit mit der hannoverschen Gospelkirche, an der sein Bruder eine Pfarrstelle hat, nahm der Chor bereits vor zwei Jahren eine eigene CD auf. Im Herbst soll die ungewöhnliche Kooperation wieder aufleben. Für Sven B. steht schon jetzt fest, dass er nach seiner Entlassung in der Gospelkirche als Schlagzeuger spielen möchte.

Auch Mirko L. (33) berichtet, dass er im Chor fürs Leben lerne: "Vor drei Jahren habe ich noch kein einziges Wort Englisch gesprochen. Inzwischen kenne ich durch die Lieder viele Vokabeln." Außerdem habe er mit den Auftritten vor den anderen Häftlingen an Selbstvertrauen gewonnen. "Früher war ich ein Einzelgänger", sagt Mirko L., der ungefähr die Hälfte seines bisherigen Lebens in Jugendarrest und Justizvollzug verbracht hat. Inzwischen habe er aber erkannt, dass er die ihm gebotenen Chancen nutzen sollte.

Genau dazu will Pastor Dierks die Insassen mit seinem Gospel-Angebot ermutigen. "Ein Häftling ist für mich in erster Linie ein Mensch, der mit seinen Ängsten, Sorgen und Nöten umgehen muss." (epd)