Auf Deutsch in Nordamerika

Evangelisch-lutherische Kirchengemeinden in den USA und Kanada

08. Dezember 2011

Mühlenberg Denkmal, Ottawa (Foto: Alexandra Demke)

Philadelphia. Hier kamen im Oktober 1683 die ersten deutschen Siedler-Familien an. Hier war im 18. Jahrhundert Pfarrer Heinrich Melchior Mühlenberg tätig, der „Vater des amerikanischen Luthertums“. Und hierher waren 2011 die 55 in der Deutsche Evangelisch-Lutherischen Konferenz in Nordamerika (DELKINA) zusammengeschlossenen deutschsprachigen evangelisch-lutherischen Gemeinden zur Vollversammlung eingeladen. Diese Treffen alle zwei Jahre sind für viele der Pfarrer und Pfarrerinnen die einzige Möglichkeit, theologische Themen auf Deutsch zu besprechen und sich mit deutschen Kollegen auszutauschen. Tankstelle für Geist und Seele.

In Nordamerika, wo jeder fünfte bis zehnte deutsche Vorfahren hat, ist immer Bedarf an deutschsprachigen Pfarrern. Aber ihre Geschichten sind ganz verschieden: da ist die Pfarrerin der „ersten Generation“, in Kanada geborenes Kind deutscher Einwanderer. Da sind von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) entsandte Pfarrer, die für sechs Jahre aus Deutschland entliehen werden. Und da sind Pfarrer, die sich auf eigene Faust auf Pfarrstellen in Nordamerika beworben haben und auswandern.

Gast mit klarem Auftrag

Frank Kopania ist da eine Mischung. Er ist für fünf Jahre von seiner heimischen Landeskirche beurlaubt worden. Er hat einen klaren Auftrag. Und er wird in zwei Jahren wieder nach Deutschland zurückgehen.

Er wurde nach Süd-Florida geschickt, um die Seelsorge für die dort vermuteten rund 100.000 Deutschen zu koordinieren und zu versuchen, eine stabile Gemeinde aufzubauen. 100.000 Deutsche? Sie sind gar nicht zu finden. Es gibt in sieben englischsprachigen Gemeinden einmal im Monat einen deutschsprachiger Gottesdienst für die „snowbirds“, deutsche Ruheständler, die wie Schneevögel ab November angeflogen kommen, um im warmen Süden zu überwintern. Es gibt deutsche Gruppen in englischsprachigen Gemeinden. Alles recht stabil - aber überschaubar.

Junge Familien in Florida

Neu sind die vielen jungen Familien, die meist nur auf Zeit in Florida wohnen. Auf sie konzentriert Frank Kopania seine Arbeit. Wer Kinder hat und im Ausland lebt, besinnt sich gerade in der Weihnachtszeit auf seine Wurzeln. In den Schulen gibt es keinen Religionsunterricht, und die Klassen sind kulturell so gemischt, dass christliche Feste genauso wenig gefeiert werden, wie die anderer Religionen. Adventskränze hängen in den Straßen an den Haustüren, manchmal auch an Bäumen. Natürlich ohne Kerzen. Die festlichen Gottesdienste in den deutschsprachigen Kirchen sind da wie eine Oase: hier wird ganz klassisch der liebe Advent angesagt, die Kinder dürfen die Kerzen am Adventskranz anzünden, und es werden kräftig die vielen schönen Adventslieder gesungen.

Mit den jungen Familien aber eine eigene Gemeinde zu gründen, wird wohl nicht gelingen.  Paul Oppenheim, Nordamerika-Referent der EKD, beschreibt die Grundproblematik: man bräuchte Tausende Deutsche, um eine Gemeinde zu bilden - einmal im Jahr zu Weihnachten in die Kirche zu gehen, reiche nicht. Zum anderen fehle den Gemeinden Geld. „Wir haben keine Theologie, die Geld für die Kirche spendet. Der gute Zweck sind beispielsweise Hungernde in Somalia.“ Das amerikanische Prinzip, dass die Gemeinde sich selbst - und also auch ihren Pfarrer - finanziere, sei zu wenig vertraut. In Deutschland zahle man Kirchensteuer - kein Vergleich zu den in Nordamerika üblichen 10 % des Einkommens. Die Amerikaner könnten die Finanzprobleme deutscher Gemeinden deshalb gar nicht verstehen: „Mensch, Ihr habt 60 Familien, das ist ja toll.“ Dass das wirklich toll wird, daran arbeitet Frank Kopania.

Aus Westfalen nach Alberta

Und nebenbei ist er in Philadelphia zum neuen Vorsitzenden der DELKINA gewählt worden. Während er nun in Süd-Florida bei 26 Grad Celsius auf der Terrasse im Schatten sitzt, schippt seine Stellvertreterin Ingrid Cramer-Dörschel im hohen Norden Kanadas in dicken Wintersachen den Schnee vor ihrem Haus weg. 4827 Kilometer liegen zwischen ihnen - eine Entfernung, die die Hauptaufgaben des Vorstands spiegelt: bei allen unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten füreinander da zu sein, sich zu stärken und noch weiter und tiefer zu vernetzen.

Ingrid Cramer-Dörschel gehört zu denen, die sich ganz auf eigene Faust nach Nordamerika aufgemacht haben. Als sie nach 17 Jahren als Pfarrerin in Westfalen um sich herum immer mehr Stillstand erlebte, bewarb sie sich bei der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Kanada. „Viele Pfarrer blieben in ihren Pfarrstellen sitzen, weil sie befürchten mussten, ihre alte Stelle könnte bei einem Wechsel gestrichen werden.“ Solch ein Steckenbleiben wollte sie nicht. Seit 2006 ist sie mit ihrem Mann in der kanadischen Prärieprovinz Alberta, wo sie in der Hauptstadt Edmonton in der Evangelisch-Lutherischen Trinitatis Gemeinde arbeitet.

Jeden Sonntag gibt es um 9.30 Uhr einen deutschen und um 11 Uhr einen englischen Gottesdienst. Die deutschsprachigen Gemeindeglieder werden zusehends immer älter. „Eine wesentliche Aufgabe für mich ist es hier, die langsam wegsterbende deutsche Gründergemeinde in ihrem Trauerprozess zu begleiten und sie zu versöhnen mit dem, was ist.“ Die Kinder sind meist verheiratet mit Kanadiern, die Enkel sprechen da selten noch deutsch. Wenn diese Familien in die Kirche gehen, dann in den englischen Gottesdienst.

Obdachlosigkeit und „schmutziges Öl“

Die englischsprachige Gemeinde ist modern, liberal und sozial engagiert. Gemeinsam mit Gemeinden aus der Nachbarschaft beteiligt sie sich an einem Projekt der Stadt Edmonton zur Beendigung der Obdachlosigkeit. Alle zwei Wochen laden sie zu einem Essen für Bedürftige ein und bieten - mindestens so wichtig - ein Gespräch an. Etwa 80 Prozent der Obdachlosen gehören zu den indianischen Ureinwohnern. Es sind traurige Geschichten des Scheiterns. Und es ist auch eine Geschichte der Schuld - denn es waren Kirchen, die jahrzehntelang - noch bis 1984 - staatliche Internate geleitet haben, in denen indianische Kinder umerzogen werden sollten. Sie durften ihre Sprachen nicht sprechen, ihre Rituale nicht ausüben, wurden geprügelt und missbraucht. Erst in den 90er Jahren wurde mit einer Wiedergutmachung begonnen. Entschädigungen und Hilfsprojekte - für zerstörte Kultur, Alkoholismus, Gewalt, hohe Selbstmordrate...

In Alberta wird derweil neues Unrecht begangen, wird Land der indianischen Ureinwohner zerstört. Beim Abbau des „schmutzigen Öls“, wie der Ölsand genannt wird, in dem die größten Erdölreserven Kanadas liegen. Der Ölboom durch den Irakkrieg vor acht Jahren führte zu einer Goldfieberstimmung. Auch in Deutschland, wo kanadische Firmen Arbeiter anwerben lassen. „Die Verträge gelten meistens für zwei Jahre, wahrscheinlich wird eine Verlängerung versprochen“, meint Ingrid Cramer-Dörschel. In der Finanzkrise vor zwei Jahren brach der Ölpreis von 140 Dollar pro Barrel auf rund 35 Dollar ein. Darauf wurde die Förderung in Alberta zurückgefahren, Tausende Arbeitsplätze gingen verloren.

Sehnsucht nach der Weite Kanadas

Eines Tages nach dem Gottesdienst stand eine weinende Frau vor der Tür, erzählt Ingrid Cramer-Dörschel. Sie hatte von der deutschen Kirche gehört, wollte jemandem ihr Herz ausschütten. Mit ihrem Mann und zwei Kindern war sie nach Kanada ausgewandert. In Deutschland hatten sie alles verkauft. Etwas blauäugig, aber voller Hoffnung auf das große Glück kamen sie nach Alberta. Der Mann hatte einen Arbeitsvertrag als Transportfahrer. In der allgemeinen Entlassungswelle wurde ihm gekündigt. Die Aufenthaltsgenehmigung aber ist an den Arbeitsvertrag gebunden. Die Familie musste nach Deutschland zurück - ins Nichts. Über diese Krise scheiterte die Ehe. Innerhalb von einem halben Jahr brach die gesamte Existenz dieser Familie zusammen.

Es gibt viele solche Schicksale. Ingrid Cramer-Dörschel sieht hier eine Aufgabe der Seelsorge. Die Mentalität der Deutschen in ihrer Gemeinde ist da härter gestrickt. Die bitteren Notzeiten der eigenen Einwanderung sitzen zu sehr in den Knochen: „Wir haben es vor 50 Jahren geschafft, alles aufzubauen, das können die heute auch“, ist eine oft gehörte Meinung.

Ingrid Cramer-Dörschel selbst hat seit letztem Jahr eine ständige Aufenthaltsgenehmigung für Kanada. Von ihrer Landeskirche war sie für sechs Jahre beurlaubt worden. Nächstes Jahr läuft diese Zeit ab. Sie steht vor der Entscheidung, die Brücken nach Deutschland abzubrechen. „Immer, wenn ich in Deutschland bin“, sagt sie, „sehne ich mich nach der Weite Kanadas...“

[Quelle: Alexandra Demke, Ottawa]