Lieber an der Bushaltestelle abhängen statt in die Schule

Zwischen 300.000 und 500.000 Schüler schwänzen regelmäßig den Unterricht

04. November 2010

Symbolfoto mit zwei Jugendlichen (Foto: epd-bild / Gustavo Alabiso)

Jessica ist 14 und läuft seit Wochen jeden Morgen an der Schule vorbei zum Altarm der Saar. Während ihre Mitschüler morgens über Mathe und Erdkunde brüten, zieht es sie magisch zu ihrer Ersatzfamilie, die sie "brothers und sisters" nennt. Die Gruppe teilt Alkohol und Drogen und vermittelt ihr das Gefühl der Geborgenheit: "Meine mother passt auf mich auf", beteuert das Mädchen. Die "mother" ist 17 und dass Jessica die Schule schwänzt, stört sie kein bisschen.

Als Jessica dem Pädagogen Norbert Preuß von der "Anlaufstelle Schulverweigerung" im Landkreis Saarlouis gemeldet wird, hat sie schon mehr als 40 Fehltage. Unterricht und Schulalltag sind ganz an den Rand ihrer Welt geraten.

Mit verschobenen Realitäten von Jugendlichen, aus den Fugen geratenen Lebensläufen haben Reuß und die anderen Mitarbeiter der zwei saarländischen Schulverweigerungsprojekte unter dem Dach der Diakonie immer wieder zu tun. Mit Schülern, die ganze Vormittage gemeinsam durch Kaufhäuser und Parks ziehen oder an der Bushaltstelle abhängen, mit denen, die nicht aus dem Bett kommen, weil sie die Nächte mit Computerspielen verdaddeln. Wieder andere entwickeln schon beim Gedanken an den Unterricht Krankheiten oder Phobien.

Zwischen 300.000 und 500.000 Schulverweigerer soll es in Deutschland geben. Die meisten sind zwischen 14 und 16 Jahre alt, und sie kommen aus allen Schultypen.

Fast alle Bundesländer haben Programme dagegen aufgelegt, parallel dazu drohen sie mit Bußgeldern: Im Saarland kostet es etwa 100 Euro, wenn ein Schüler von der Polizei abgeholt wird, in Berlin müssen Eltern von hartnäckigen Schulverweigerern mit Strafen bis zu 2.500 Euro rechnen. Anderswo setzt man auf Belohnung: In Créteil bei Paris lobten mehrere berufsbildende Gymnasien eine Prämie von bis zu 10.000 Euro für die Klasse aus, deren Mitglieder am regelmäßigsten den Unterricht besuchen.

"Eine richtig harte Schulverweigerung kündigt sich an, so was kommt nie aus heiterem Himmel", sagt Marina Horstmann, Sozialarbeiterin beim Diakonischen Werk an der Saar und Koordinatorin der Projekte. Zu den Auffälligkeiten gehören Konflikte mit Lehrern oder Mitschülern, dazu kommen meist noch Schwierigkeiten zu Hause. Dort heißt das häufigste Problem "zerrüttete Familie", aber es kann auch um Krankheit, Armut und Arbeitslosigkeit gehen oder um alles zusammen.

Egal ob auf Strafe, Belohnung oder Sozialarbeit gesetzt wird, viel Zeit zum Eingreifen bleibt nicht. "Wenn bis zur 9. Klasse nichts passiert ist, wird es kritisch", so die Erfahrung aus den saarländischen Schulverweigerungsprojekten. Mit 15 oder 16 sei es für eine schulische Re-Integration oft schon zu spät.

"Wenn ich es schaffe, eine verlässliche Bezugsperson für einen Schulverweigerer zu werden, habe ich eine Chance", stellt eine Projektmitarbeiterin fest. Ziehen auch die Eltern mit, sind die Perspektiven noch besser.

Doch laut Marina Horstmann verfolgen Eltern und Schule im Umgang mit den Schulverweigerern selten eine konsequente Strategie. Nach ihrer Erfahrung resignieren Eltern zu schnell, haben Lehrer viel zu wenig Zeit für einzelne problematische Schüler, vergehen Wochen, bis sich das Jugendamt kümmert.

Auf einen Therapieplatz warten Jugendliche oft ein ganzes Jahr und sogar das Bußgeld oder den Arrest gibt es mit großer zeitlicher Verzögerung. "Die Jugendlichen erleben immer, dass sie bei ihrer Suche nach Freiräumen unbehelligt bleiben und niemand einschreitet", sagt Horstmann.

In den Projekten gegen Schulverweigerung heißt die Devise dagegen "dranbleiben". Auch wenn das oft ein zähes Ringen auf allen Ebenen bedeutet: Wenn die Probleme in der Familie liegen, organisieren sie Hilfe zur Erziehung übers Jugendamt. Gibt es Konflikte mit Mitschülern oder Lehrern, holen sie Schulschwänzer morgens ab und begleiten sie in den Unterricht.

Die Projektmitarbeiter bahnen therapeutische Unterstützung mit Hilfe des schulpsychologischen Dienstes an und klären Erkrankungen über das Gesundheitsamt ab. Sie sprechen mit Ärzten, die neue Atteste für Schulverweigerer schreiben, und organisieren Nachhilfeunterricht.

Nicht immer gelingt die Re-Integration der Schützlinge in den bisherigen Schulbetrieb. Oft ist ein Wechsel zum Neustart nötig. Die Frage nach dem Erfolg der Arbeit beantwortet Norbert Preuß erst einmal mit der Statistik: Bis zu 100 Schulschwänzer pro Jahr betreut allein das Saarlouiser Projekt, etwa die Hälfte davon hält auf lange Sicht den Unterricht durch.

In die Bilanz des Pädagogen gehen aber auch die Lernprozesse seiner Schützlinge ein. Dann kann es durchaus ein Erfolg sein, wenn ein Computer-Freak nach monatelangem Dauerspiel endlich wieder sein Zimmer verlässt und sich dem wirklichen Leben aussetzt, sagt Preuß: "Auch wenn klar ist, dass er so schnell keinen Schulabschluss schafft."

(epd)