Dichten mit dem Herz des Gärtners

Der israelische Romancier Meir Shalev spürt den "ersten Malen" in der Bibel nach

03. September 2010

Meir Shalev

Seinen größten Schatz hat Meir Shalev hinter der Türe zu seinem Arbeitszimmer verstaut. Dort, auf mehreren Regalbrettern aus Holz, lagern die getrockneten Rispen, Ähren und Blüten von allerlei Wildblumen in Einmachgläsern. Der israelische Schriftsteller hat sie eigenhändig gesammelt: Kronenanemone und Madonnenlilie, Alpenveilchen, Mohn und Narzisse. "Im Winter", sagt Shalev, wenn in Israel die Wildblumen blühen, "dann leuchtet mein Garten in allen Farben."

In der Jesreelebene, im fruchtbaren Norden Israels, ist Meir Shalev geboren und dorthin ist er vor einigen Jahren zurückgekehrt. In einem kleinen Kibbuz, nahe seinem Heimatdorf Nahalal, hat er sich ein Grundstück gekauft. Seitdem ist Shalev ein Reisender zwischen den Welten. Einige Tage arbeitet er in Jerusalem, der Stadt der Pilger und Suchenden, aus der auch sein Vater stammt, der Dichter Yitzchak Shalev. Wann immer möglich, flieht der bald 62-Jährige Shalev jedoch aus der Stadt, zieht sich zurück, dorthin, wo sich bereits seine Großeltern mütterlicherseits niederließen. Sie waren Pioniere aus der Ukraine, die sich in Israel vor dem Zweiten Weltkrieg eine neue Heimat schufen.

"In diesen beiden Welten wuchs ich auf", sagt Shalev. "Zwischen Stadt und Moschaw, zwischen Bauern und Intellektuellen." Dieser Gegensatz war nicht nur in seiner Familie von Bedeutung. Er kennzeichnet auch die Ära vor der Gründung des Staates Israel. Es waren eben jene intellektuellen Juden der Diaspora, von denen sich die Pioniere abgrenzen wollten. Die harte Arbeit auf dem Felde galt ihnen mehr, als die vergeistigte Abgeschiedenheit des Studierzimmers. "Die Familie meiner Mutter hat über meinen Vater gelacht, weil er ein Dichter war und sich auf dem Hof nicht zu helfen wusste", erinnert sich Shalev. Gleichwohl war es die poetische Ader die Shalevs Eltern zusammenbrachte. "Mein Vater schrieb Liebesgedichte für meine Mutter", erzählt Shalev. "Das war etwas, was die Dorfjungs nicht konnten."

Es sind diese beiden Pole, zwischen denen auch Shalevs Werke oszillieren. Seine in zahlreiche Sprachen übersetzten Romane, erzählen phantasievolle, oft nahezu magische Geschichten, in deren Protagonisten sich Shalevs Verwandte wieder spiegeln. Sein neustes Buch "Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger" ist eine Hommage an Shalves Großmutter Tonya und ihren erbitterten Kampf gegen den Staub. Es erzählt von der Fehde seines Großvaters mit dem Bruder, der es vorzog, in den USA, dem verhassten kapitalistischen Staat, statt in Israel zu leben. 2011 soll es auf dem deutschsprachigen Markt erscheinen.

Shalevs letztes auf Deutsch erschienenes Buch "Aller Anfang" (2010) hingegen ist eine Reminiszenz an die andere, die intellektuelle Seite seiner Familie. Bereits zum zweiten Mal hat Shalev damit eine ungewöhnliche, weil gänzlich säkulare Bibelauslegung geschrieben. Ebenso wie in seinem ersten Werk "Der Sündenfall. Ein Glücksfall?" (1997), sind es auch diesmal die menschlichen Aspekte der biblischen Figuren, die den Autor faszinieren. "In der Bibel geht es um Männer und Frauen, Familien und Gefühle und um gute Literatur", sagt Shalev. "Die Schöpfungsgeschichten sind zwar interessant, aber sie berühren nicht unsere Herzen."

Gemäß diesem Motto hat Shalev die "ersten Male" in der Bibel untersucht und kommt dabei zu erstaunlichen Ergebnissen: So ist die erste Liebe in der Bibel nicht etwa die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern die zwischen Vater und Sohn und das erste Lachen ist zugleich auch das letzte Lachen. Strikt systematisch ist Meir Shalev für sein Werk vorgegangen. Mit Hilfe der Bibelkonkordanz von Salomon Mandelkern suchte er nach dem ersten Traum, dem ersten König, dem ersten Hass und erzählt ausgehend von den Fundstellen die Geschichten der biblischen Personen, die das Glück oder Pech hatten, in der Bibel diese "ersten Male" zu erleben. Die bekannten biblischen Figuren werden bei Shalev zu Menschen wie Du und ich - fehlbar und bisweilen voller egoistischer Motive.

Trotz dieser klugen und durchdachten Arbeit ist es das Herz des Landwirts und Gärtners, das in der Brust des Romanciers am stärksten schlägt. Prüfend reibt Shalev die Blätter der neu gepflanzten Bäume in seinem Garten zwischen den Fingern, bricht hie und da einen trockenen Zweig. Shalev kennt sich aus, mit der Flora und Fauna seines Landes. Für die detailgetreuen Beschreibungen von Tieren und Pflanzen in seinen Romanen hat er zahlreiche Preise von Natur- und Umweltschutzorganisationen erhalten. Damit vereint er in seinem Leben und Werk die beiden so unterschiedlichen Traditionen seiner Vorfahren und beweist, was seine Großeltern nicht für möglich hielten: Ein Poet kann durchaus ein guter Landwirt sein. (epd)