90 Jahre Weimarer Reichsverfassung

Die Erfolgsgeschichte eines staatskirchenrechtlichen Systems des freiheitlichen Ausgleichs

12. August 2009


Am 14. August 1919, trat die Weimarer Reichsverfassung in Kraft. Mit ihr beschritt Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, der Novemberrevolution von 1918 und der Ausrufung der Republik in Abkehr von der Monarchie sowie den Arbeiter- und Soldatenräten den Weg zum demokratischen Verfassungsstaat. Mit der Weimarer Reichsverfassung sind demokratische Errungenschaften verbunden wie die Festschreibung allgemeiner Wahlrechtsgleichheit und damit des Wahlrechts für Frauen.

Schon bald aber erwiesen sich die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung bezüglich der Staatsorganisation als problematisch. Zum Beispiel die schwache Stellung der Reichsregierung, die im Verlaufe der „Weimarer Republik“ zu häufigen und raschen Regierungswechseln führte. Destabilisierend wirkte aber vor allem die mangelnde Akzeptanz der demokratischen Verfassung in weiten Teilen der Bevölkerung. Hinzu kam die zunehmende Radikalisierung in der Auseinandersetzung zwischen Links- und Rechtsextremen, in deren Folge beide Seiten immer mehr Anhänger gewannen. Schließlich unterliefen ab dem Jahr 1930 Präsidialkabinette mit weitreichender Ausnutzung der Notverordnungskompetenzen des Reichspräsidenten die demokratische Ordnung, bis mit dem sogenannten Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 die Weimarer Reichsverfassung ausgesetzt wurde.

Die „Väter und Mütter“ der Bundesrepublik Deutschland haben 1948/49 die Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Reichsverfassung gezogen und mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland  eine ausbalancierte Gewaltenteilung und die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers gewährleistet. Auch räumt das Grundgesetz den Bundesländern mehr Gewicht ein, es begrenzt die Möglichkeiten von Verfassungsänderungen und stärkt die Verfassungsgerichtsbarkeit. So hat das Grundgesetz einige „Geburtsfehler“ der Weimarer Reichsverfassung korrigiert und jene Form „streitbarer Demokratie“ ermöglicht, die sich seit 60 Jahren in Deutschland bewährt hat. Die beiden großen Kirchen stellten deshalb anlässlich der Feierlichkeiten zu 60 Jahre Grundgesetz in einer Erklärung gemeinsam fest: „Aus den Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkrieges heraus haben die Mitglieder des Parlamentarischen Rates mit dem Grundgesetz eine Verfassung geschaffen, die eine wesentliche Grundlage für eine stabile demokratische und freiheitliche Entwicklung Deutschlands bietet.“

Ein Teil aber der Regelungen der Weimarer Reichsverfassung gilt bis heute, nämlich die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die freie individuelle wie korporative Religionsausübung, für die eigenständige Gestaltung der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sowie für deren öffentliches Wirken: Artikel 140 des Grundgesetzes (GG) erklärt die Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) zum Bestandteil des Grundgesetzes. Diese Bestimmungen stellen also bis heute vollgültiges Verfassungsrecht dar, das den grundrechtlichen Schutz der individuellen und korporativen Religionsfreiheit nach Artikel 4 GG ergänzt. Es ist eine Erfolgsgeschichte, dass diese Bestimmungen seit nunmehr 90 Jahren – mit der Unterbrechung im Nationalsozialismus – praktisch unverändert fortbestehen und eine freiheitliche Ausgestaltung des Zusammenlebens verschiedener Konfessionen und Religionen in Deutschland ermöglichen. Angesichts der zwischenzeitlichen Veränderungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung und der Religionszugehörigkeit der Menschen ist das eine bemerkenswerte Leistung. Sie geht darauf zurück, dass diese Regelungen der Weimarer Reichsverfassung zukunftsoffen formuliert sind.

Zu den Artikeln im Einzelnen: Artikel 136 WRV schützt Aspekte der individuellen Religionsfreiheit, wie sie im Kanon der Grundrechte der ersten zwanzig Artikel auch durch Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgt sind. So verbieten Artikel 136 Abs. 1 und Abs. 2 WRV Diskriminierungen aus Gründen der Religion oder Weltanschauung. Das Recht, das religiöse Bekenntnis zu verschweigen (Artikel 136 Abs. 3 WRV), ist Teil der negativen Religionsfreiheit. Beschränkungen dieses Rechts sind möglich, zum Beispiel bei Fragen nach der Religionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte in Folge des kirchlichen Besteuerungsrechts (Artikel 137 Abs. 6 WRV), in Zusammenhang mit der Kriegsdienstverweigerung aus religiösen Gründen oder zur Gewährleistung der Militär- und Anstaltsseelsorge (Artikel 141 WRV). Auch die Unzulässigkeit eines staatlichen Zwanges zu religiösen Handlungen nach Artikel 136 Abs. 4 WRV ist Bestandteil der negativen Religionsfreiheit.

Artikel 137 WRV ergänzt die individuelle Religionsfreiheit um korporative und institutionelle Gewährleistungen. Die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche hat in dem Verbot der Staatskirche nach Artikel 137 Abs. 1 WRV ihre formelle verfassungsrechtliche Feststellung gefunden. Sie bildet zusammen mit den anderen Gewährleistungen die verfassungsrechtliche Grundlage für ein ausbalanciertes Verhältnis von Staat und Kirche. Dieses System des freiheitlichen Ausgleichs geht von der Unterschiedlichkeit des geistlichen Auftrags der Kirche und der weltlichen Aufgaben des Staates aus. Es lebt davon, dass die Trennung von Staat und Kirche gleichermaßen Distanz und Kooperation gebietet. Der Staat ist dabei auf seine säkularen Aufgaben begrenzt und gewährleistet den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften den Raum, ihren Auftrag in Freiheit und Unabhängigkeit wahrzunehmen. Dazu gehört auch die Freiheit, religiöse Vereinigungen zu bilden (Artikel 137 Absatz 2 WRV), und vor allem das sog. kirchliche Selbstbestimmungsrecht nach Artikel 137 Abs. 3 WRV. Dieses ermöglicht und sichert den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften umfassend, ihre eigenen Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten sowie ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der Kommunen zu verleihen. Damit erkennt der Staat auch an, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat sind und ihren Auftrag nicht von ihm herleiten. Artikel 137 Abs. 4 WRV garantiert den Religionsgemeinschaftend den Zugang zu privatrechtlichen Organisationsformen. Mit Artikel 137 Abs. 5 WRV erkennt der Staat einzelnen Religionsgemeinschaften darüber hinaus öffentlich-rechtliche Körperschaftsrechte zu, die sie im Sinne der korporativen Religionsfreiheit von den Zwängen privatrechtlicher Verbandsgestaltung entheben. Zugleich bekräftigt der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus das Wirken der Religionsgemeinschaften im öffentlichen Leben. Artikel 137 Abs. 6 WRV ermöglicht und garantiert das Kirchensteuerwesen, das in finanzieller Hinsicht die freie und unabhängige Auftragswahrnehmung der Kirchen und Religionsgemeinschaften stärkt. Auf diesen Artikel können sich auch Weltanschauungsgemeinschaften berufen (Artikel 137 Abs. 7 WRV). Artikel 137 Abs. 8 WRV stellt klar, dass die Zuständigkeit für die Ausgestaltung des Staatskirchenrechts grundsätzlich bei den Ländern liegt.

Artikel 138 Abs. 1 WRV gewährleistet Staatsleistungen als laufenden Ausgleich für die weitgehenden Säkularisierungen (Enteignungen) von Kirchenbesitz in Deutschland insbesondere zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Für eine Ablösung, die gegen Entschädigung zu erfolgen hat, muss der Bund die Grundsätze regeln. Die Kirchengutsgarantie (Artikel 138 Abs. 2 WRV) schützt Religionsgemeinschaften nicht nur vor Enteignungen, sondern darüber hinaus und unabhängig von der Eigentumslage auch vor einer Verwendung von Kirchengut entgegen der religiösen Zweckbestimmung. Der Sonn- und Feiertagsschutz nach Artikel 139 WRV sichert die Sonn- und Feiertage als verlässliche Tage der kollektiven Arbeitsunterbrechung auch zur „seelischen Erhebung“. Artikel 141 WRV gestattet und ermöglicht den Religionsgemeinschaften zu gottesdienstlichen und seelsorgerlichen Zwecken den Zugang zu Militär, Krankenhaus, Strafvollzug und anderen öffentlichen Anstalten, zu solchen Einrichtungen also, die Menschen nicht ohne Weiteres zum Gottesdienstbesuch verlassen können.

Fazit: Diese Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung haben sich in den 90 Jahren seit ihrem Inkrafttreten immer wieder als zukunftsfähig erwiesen. Denn sie bilden ein staatskirchenrechtliches System des freiheitlichen Ausgleichs. Der freiheitliche Charakter dieser Verfassungsordnung gerade in Religionsfragen verdankt seine besondere Prägung den spezifischen Erfahrungen, die Deutschland in Folge der Reformation machte. Schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts – beginnend mit dem Augsburger Religionsfrieden des Jahres 1555 - wurden staatliche Friedensordnungen für das Gegen-, Neben- und schließlich Miteinander von unterschiedlichen Konfessionen auf einem staatlichen Territorium gefunden. Die Religions-und Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung vom August 1919, die unser Grundgesetz bis heute bewahrt, sind das Ergebnis einer Entwicklung, die aus leidigen Religionskriegen den Weg zu einem friedlichen, konstruktiven Miteinander von Kirchen und Religionsgemeinschaften in Deutschland ermöglicht hat und auch in Zukunft ermöglichen wird.