Der Baum blüht trotzdem

Vor 100 Jahren wurde die Dichterin Hilde Domin geboren

24. Juli 2009


Ihre Freunde und Kollegen rief sie am liebsten mitten in der Nacht an oder am frühen Sonntagmorgen. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki oder der Schriftsteller Manès Sperber wussten ein Lied davon zu singen: Hilde Domin (1909-2006) konnte lästig sein, wenn sie meinte, Einspruch sei fällig, öffentlicher Protest gegen einen Zeitungsartikel oder eine politische Verlautbarung. "Ich bin ein politischer Mensch vom Scheitel bis zur Sohle", bekannte die resolute Dichterin, die vor 100 Jahren geboren wurde, am 27. Juli 1909.

Schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten war die Tochter einer Sängerin und eines Rechtsanwalts jüdischer Herkunft politisch interessiert. Als Hilde Löwenstein in Köln geboren und aufgewachsen, studierte sie zunächst Jura, später Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Philosophie.

An der Universität Heidelberg lernte sie ihren späteren Ehemann kennen, den Archäologiestudenten Erwin Walter Palm. Mit ihm siedelte sie 1932 zu einem Auslandsstudium nach Rom über. Schon im Jahr darauf wurde das Studienland zum Exil. In Florenz promovierte Hilde Löwenstein 1935 über die politische Theorie der Renaissance, 1936 heiratete sie Palm.

Über Paris floh das Ehepaar im Frühjahr 1939 vor den italienischen Rassegesetzen nach London, wo Hilde Palm als Sprachlehrerin arbeitete wie schon zuvor in Rom. Der drohende Luftkrieg zwang sie 1940 abermals zur Flucht, diesmal über Kanada in die Dominikanische Republik: in die Obhut des Diktators Rafael Leónidas Trujillo. Dort arbeitete Hilde Palm als Assistentin ihres Mannes und unterrichtete später Deutsch an der Universität von Santo Domingo.

In der Dominikanischen Republik erlebte sie 1951 auch ihre "zweite Geburt" als Dichterin. Nach persönlichen Enttäuschungen und dem Tod ihrer Mutter suchte sie in der Sprache Zuflucht: "Ich befreite mich durch Sprache. Hätte ich mich nicht befreit, ich lebte nicht mehr", erinnerte sie sich später. 1954 kehrte sie nach Europa zurück, aber erst 1961 ließ sie sich in Heidelberg nieder, wo ihr Mann einen Lehrstuhl übernahm.

Seit 1957 waren ihre Verse in Zeitschriften erschienen. 1959 legte sie ihren ersten Lyrikband unter dem Titel "Nur eine Rose als Stütze" vor. Dem Debüt folgten drei weitere Gedichtbände: "Rückkehr der Schiffe" (1962), "Hier" (1964) und "Ich will dich" (1970). Innerhalb weniger Jahre war die Verfasserin zu einer namhaften deutschen Dichterin geworden, die sich nun nach dem Land nannte, dem sie ihr Überleben verdankte: Hilde Domin.

Einfach und klar, kühl und schwerelos bot sie der Geschichte Paroli: "Nicht müde werden/sondern dem Wunder/leise/wie einem Vogel/die Hand hinhalten." Ihre Kollegin Ulla Hahn bewunderte diesen "Mut zum Dennoch".

Lieben und Ermutigung zum Lieben waren die Wurzeln dieser Verse, die ins "erste Paradies" einer glücklichen Kindheit zurückreichten. Über "Das zweite Paradies" (1962), ihr Emigrantenschicksal, hat Hilde Domin ihren einzigen Roman verfasst.

Auch theoretisch hat sie sich mit der Poesie auseinandergesetzt. Ihre Streitschrift "Wozu Lyrik heute" nannten Kritiker in einem Atemzug mit den poetologischen Werken Gottfried Benns und Bertolt Brechts. Zwei autobiografische Bände veröffentlichte sie in den 70er und 80er Jahren. 1999 erschien im S. Fischer Verlag ihr letzter Gedichtband: "Der Baum blüht trotzdem". Damals, kurz vor ihrem 90. Geburtstag, gab sie auch ihr echtes Geburtsdatum preis, den 27. Juli 1909. Bis dahin hatte sie auf 1912 bestanden.

Hilde Domin ist am 22. Februar 2006 an den Folgen eines Sturzes gestorben. Begraben wurde sie auf dem Heidelberger Bergfriedhof neben ihrem 1988 verstorbenen Mann. Regisseurin Anna Ditges begleitete die betagte, aber immer noch energische Dichterin mit der Kamera durch das letzte Lebensjahr. Unter dem Titel "Ich will dich" dokumentiert ihr eindringlicher Film ein Leben, das sich der Tätersprache verschrieben hatte: "da stand ich auf und ging heim, in das Wort."