Anselm von Canterbury starb vor 900 Jahren

Überragender Theologe, mutiger Reformer, schlichter Christ

21. April 2009


Er war einer der unabhängigsten Denker des Mittelalters: Anselm von Canterbury (1033 bis 1109) versuchte, Vernunft und Glauben zusammen zu bringen und beeinflusste die Geschichte der christlichen Theologie damit wie kaum ein Zweiter. "Vater der Scholastik" hat man ihn gern genannt, was nicht stimmt, weil er kein Systemdenker war, keine Schule gründete und in vielem ganz andere Anschauungen hatte als die großen Scholastiker wie Thomas von Aquin oder Albertus Magnus. Aber als wichtigster Wegbereiter dieser im Mittelalter entwickelten wissenschaftlichen Denkweise kann er gelten. Anselm von Canterbury starb vor 900 Jahren, am 21. April 1109.

Im heute italienischen Aosta in einer begüterten Familie geboren, ging der junge Anselm voll Wissenshunger und Idealismus auf Wanderschaft, um sich wie damals üblich einen guten Lehrer zu suchen. Er fand ihn in der Normandie, in der Benediktinerabtei Le Bec, wo der berühmte Prior Lanfrank eine offene Klosterschule gegründet hatte. Lanfrank nahm sich die Freiheit, theologische Probleme nicht allein mit Bibel und Kirchenvätern, sondern auch mit Hilfe weltlicher Wissenschaften wie Grammatik, Dialektik und Logik zu lösen.

Anselm war so fasziniert, dass er in Le Bec blieb und Lanfrank drei Jahre später als Prior nachfolgte. Er begann zu schreiben: innige Gebete, Meditationen von großer Klarheit und in einem persönlichen Ton. Bald folgten anspruchsvolle theologische Werke, nicht sehr umfangreich, aber mit einem explosiven Inhalt: "Ein Beispiel des Nachdenkens über die Begründung des Glaubens" oder - mit einer klassisch gewordenen Formulierung - "Fides quaerens intellectum" ("Der Glaube, der nach Einsicht sucht").

Das war schon die ganze Sehnsucht, welche die spätere Scholastik umtrieb: das Wesen Gottes, die Bestimmung des Menschen, den Sinn des Lebens nicht einfach von irgendwelchen Autoritäten erklärt zu bekommen, sondern den letzten Wahrheiten durch den eigenen Intellekt auf die Spur zu kommen. "Allein durch die Kraft der Vernunft" soll die Glaubenseinsicht laut Anselm erfolgen, "mit notwendigen Gründen, ohne die Autorität der Heiligen Schrift", ja sogar "als ob man von Christus nichts wüsste".

Das sollte keineswegs eine rebellische Emanzipation von der Offenbarung Gottes und von der kirchlichen Tradition bedeuten. Denn wie seine Zeitgenossen betrachtete Anselm den Verstand als Geschenk Gottes. Und ratio, Vernunft, bedeutete im Mittelalter ohnehin etwas anderes als heute: nämlich eine Einsicht, die den Glauben bereits voraussetzt. Vernunft war demnach nicht als Konkurrenz zur göttlichen Offenbarung zu sehen, sondern als Instrument, sie besser zu verstehen.

Anselm von Canterbury stellte vor fast 1.000 Jahren moderne Fragen: Können wir überhaupt von Gott reden? Sind es nicht am Ende immer nur Aussagen über uns, wenn wir über Gott sprechen? In diesem Zusammenhang entwickelte er den sogenannten ontologischen Gottesbeweis: "Wir glauben, dass Du etwas bist, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann." Eine derartige Wirklichkeit kann aber nicht nur in der menschlichen Vorstellung existieren. Es ist logisch unmöglich, dass etwas, "über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann", als nicht existierend gedacht wird.

Die zweite Frage, mit der Anselm in die Theologiegeschichte einging, steht in einem seiner Buchtitel: "Cur deus homo" ("Warum Gott Mensch wurde"). Warum hat Gott Menschengestalt angenommen und ist am Kreuz gestorben? Hätte es nicht auch einen bequemeren, sanfteren, eleganteren Weg gegeben, die Menschheit zu erlösen? Hätte Gott den Menschen ihre verkehrten Wege nicht einfach so, aus lauter Barmherzigkeit, vergeben können?

Hätte er nicht, sagte Anselm als Mensch des Mittelalters. Es hätte nicht genügt, über die verweigerte Liebe des Menschen, über seine Abwendung vom Schöpfer einfach hinwegzusehen. Das wäre nicht barmherzig genug gewesen - und vor allem nicht gerecht. Sünde muss gesühnt werden. Der Mensch kann seine gigantische Schuld nicht aus eigener Kraft sühnen, Gott kann auf diese Sühne nicht verzichten. Gleichzeitig, so Anselm, kann Gott den Menschen aber auch nicht verwerfen, weil er ihn aus Liebe geschaffen hat und ewig glücklich machen will.

Anselms Lösung: Weil "diese Genugtuung einerseits nur Gott leisten kann und andererseits der Mensch leisten muss, ist es notwendig, dass sie ein Gottmensch leiste". Diese "Sühnopfertheologie" wird heute infrage gestellt, sie klingt nach einem beleidigten Gott, der seinen Sohn in den Tod schicken muss, weil er auf seine "Genugtuung" nicht verzichten kann. Die heutige Opfertheologie denkt in juristischen Kategorien und in den Vorstellungen von Ehre und Sühne. Damals freilich war es ein großartiger Erklärungsansatz.

In seinen letzten Lebensjahren hatte Anselm als Erzbischof von Canterbury harte Konflikte mit dem geldgierigen englischen König zu bestehen, der sich an den Kirchengütern bereicherte und Anselm zumuten wollte, sich im Machtkampf mit Rom gegen den Papst zu stellen. Mehrfach ging er ins Exil. Mit seinem Bemühen, den Klerus auf ein ernstes, sittenstrenges Leben in mönchischem Stil zu verpflichten, hatte er nur zum Teil Erfolg. Am 21. April 1109 starb Anselm in Canterbury, wo er an der Seite seines Lehrers Lanfrank begraben liegt. (epd)