Eine Stimme aus Jerusalem

Ein persönlicher Kommentar zum Gaza-Krieg

09. Januar 2009


Das Entsetzen nimmt kein Ende. Am Dienstag der Beschuss der UN-Schule im nördlichen Gazastreifen; dann am Donnerstag  Geschosse auf einen Hilfskonvoi der UN – und das genau während der vereinbarten, dreistündigen Kampfpause. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: Erinnerungen werden wach an die israelischen Angriffe auf den UN-Stützpunkt bzw. das Dorf Kana im Südlibanon in den Jahren 1996 und 2006. Wieder einmal die entsetzlichen Bilder von zerfetzten Leichen, Blut, und wie immer: tief verstörten und traumatisierten Kindern.

Wieder einmal aber auch: irritierende Unsicherheit, welche n Bildern man überhaupt trauen kann und wie viele zivile Todesopfer tatsächlich auf israelischen Beschuss zurückgehen. Wie damals, so werden auch jetzt Bilder und Zahlen manipuliert; ganz genau wird man es wahrscheinlich nie wissen. Manch anderes ist dagegen unzweifelhaft: Dass die Hamas im Gazastreifen schamlos Zivilisten, gar Kinder, als menschliche Schutzschilde und als Kanonenfutter missbraucht. Dass sie regelmäßig militärische Positionen in unmittelbarer Nähe ziviler Einrichtungen aufbaut. Dass die Bilder, die aus dem Gazastreifen gelangen, nur das zeigen, von dem die Hamas will, dass es gezeigt wird. Und dass selbst der Tod somit auf makabre Weise zu Propagandazwecken inszeniert wird.

Dennoch: Jedes Kriegsopfer ist ein Opfer zuviel. Solches Leiden darf einfach nicht sein. Und wenn im Krieg Menschen ums Leben kommen, die in einer humanitären Einrichtung Schutz gesucht haben, dann ist eine Schmerzgrenze weit überschritten – ganz egal, ob es nun Einzelne, Dutzende oder Hunderte sind. 2006 war das der Wendepunkt des Libanonkrieges; die ursprüngliche Zustimmung der israelischen Bevölkerung zu diesem Feldzug schlug um in blankes Entsetzen. Später wurde klar, dass Israel den Krieg gegen die Hizbollah verloren hatte  - wenn auch nicht militärisch, so zumindest politisch. Denn zwar waren sich fast alle Israelis zu Beginn einig gewesen, dass dem ständigen Beschuss der eigenen Zivilbevölkerung und dem Leiden der eigenen Kinder notfalls eben mit Gewalt ein Ende gemacht werden musste. Aber dafür so viel Leiden über andere zu bringen – das ist für eine Menschenseele ganz unerträglich.

Dabei hätte diesmal alles anders laufen sollen. Wieder und wieder wurde hier erklärt, dass die Armee diesmal besser auf den Krieg vorbereitet sei, und dass es nur darum gehe, mit schnellen, „chirurgischen“ Angriffen die Infrastruktur der Hamas zu zerstören und der Terrororganisation damit eine Lehre zu erteilen. So sollte dafür gesorgt werden, dass zumindest für eine lange Zeit keine Hamas-Raketen mehr aus Gaza auf israelische Schulen, Kindergärten und Wohnhäuser fliegen würden. Und es hätte auch anders laufen müssen: Dreimal bereits – beim israelischen Rückzug aus dem Libanon 2000, beim Rückzug aus dem Gazastreifen 2005 und beim Ende des Libanonkrieges 2006 – war in großen Teilen der arabischen Bevölkerung der Eindruck entstanden, Israel hätte sich unter feindlichem Feuer zurückgezogen. Und jedes Mal war entweder die Hizbollah im Libanon oder die Hamas im Gazastreifen dadurch gestärkt worden. Diesmal durfte das einfach nicht passieren – übrigens auch, weil sich Ehud Barak, der israelische Verteidigungsminister, gerade mitten im Wahlkampf befindet.

Doch hat Israel tatsächlich eine „Exit-Strategie“, um auch als moralischer Sieger aus diesem Konflikt heraus zu kommen? 2006 konnte nicht einmal das erklärte Ziel, die entführten israelischen Soldaten lebend aus dem Libanon herauszuholen, erreicht werden. Und auch im Gazastreifen findet sich heute noch immer ein israelischer Soldat in Geiselhaft: Es wird im Verlauf dieses Krieges übrigens immer weniger über Gil’ad Schalit gesprochen. Denn die Parallelen zu 2006 sind allzu beängstigend.

Ob es Israel wenigstens gelingen wird, die Hamas so zu schwächen, dass sie sich nicht wieder der eigenen Bevölkerung als Sieger präsentieren kann? Die nächste Runde der Gewalt, der nächste Raketenbeschuss israelischer Städte wäre sonst vorprogrammiert. Aber kann hier überhaupt noch jemand – um einen Begriff aus der innerisraelischen politischen Debatte zu benutzen –  „moralischer Sieger“ sein, bei so viel Leid, bei so viel vergossenem Blut, bei einer ganzen traumatisierten und verlorenen Generation?

Einmal bestand in dieser letzten Konfliktrunde die Chance, dass es doch noch alles hätte ganz anders kommen können. Wäre der ohnehin beschlossene Rückzug Israels aus dem Gazastreifen im August 2005 kein einseitiger Rückzug Israels gewesen, sondern mit Palästinenserpräsident Abbas ausgehandelt worden, dann stünde Abbas heute vielleicht nicht als eine tragische Gestalt da, die mit Verhandlungen noch nie etwas erreicht hat. Doch diese Chance wurde verpasst, und die Hamas schrieb fortan auf die Mauern in Gaza: „Vier Jahre Kampf sind besser als zehn Jahre Verhandlungen.“

Und dieser Kampf wurde dann mit dem zunehmenden Erstarken der Hamas in der Tat immer unerbittlicher geführt, selbst der jüngste Waffenstillstand zuletzt immer wieder gebrochen. Auf die unendliche Zahl der kleinen, Angst und Schrecken bringenden Raketen antwortete Israel mit einer immer drastischeren Abriegelung des Gazastreifens; das humanitäre Elend mündete direkt in die militärische Eskalation. Und nach mehr als zehntausend Kassam-Raketen sah Israel dann keinen anderen Weg mehr, als militärisch zu reagieren.

Wer solche Verstrickungen zumindest gedanklich auflösen will, wird immer wieder auf die Schuldfrage kommen: Wieviel Schuld trägt Israel, weil es diesen jüngsten Feldzug begonnen hat? Wieviel Schuld die Hamas durch den unendlichen Raketenbeschuss israelischer Wohngebiete? Wieviel Schuld trägt Israel durch seine gezielten Tötungen von Palästinenserführen mitten im palästinensischen Gebiet – wieviel Schuld die Hamas durch den Bruch des Waffenstillstandes? Wieviel Schuld trägt Israel durch eine rigorose Abriegelung des Gazastreifens – wieviel Schuld die Hamas, die Frauen und Kinder auf der eigenen Seite gnadenlos in den Tod schickt und zeitweise sogar die Grenzübergänge für Hilfsgüter unter Beschuss genommen hat? Es ist wie mit der Henne und dem Ei: Es lässt sich immer noch eine Vorstufe finden, um mit dem Finger auf den jeweils anderen zu zeigen. Den Opfern hilft das nicht.

Viele Israelis sind verbittert, wenn sie im Fernsehen die Bilder von antiisraelischen Demonstrationen in Europa sehen. Es scheint immer leichter zu sein, nur Israel an den Pranger zu stellen, weil Israel vordergründig nun einmal der Stärkere im Konflikt ist – aber gewiss schwingt bei vielen Anschuldigungen auch eine gehörige Portion Antisemitismus mit. Denn die Frage stellt sich doch: Wie würdest du empfinden und handeln, wenn du in den Schuhen des anderen stecken würdest?

Wer diese Frage stellt, der wird irgendwann merken, dass die Suche nach dem letztlich Schuldigen nicht weiter führt. Deswegen lässt sich das Pferd sozusagen nur von hinten her aufzäumen, von der möglichen „Exit-Strategie“ her: Wenn es gut geht, dann wird Hamas am Ende dieses Konfliktes so geschwächt sein, dass die Märtyer- und Heldenideologie ihren Vertretern zumindest für einige Zeit im Halse stecken bleibt. Wenn es denn gut geht! (Garantiert ist das überhaupt nicht.) Aber beseitigt wird die Hamas auch dadurch nicht sein; zu verwurzelt ist sie in der Breite der Bevölkerung des Gazastreifens als eine „saubere“ (d.h.: nicht korrupte) Wohlfahrtsorganisation. Deswegen wird es nach diesem Krieg gar nicht anders gehen, als endlich wahrzunehmen: Es gibt keinen anderen potentiellen Verhandlungspartner im Gazastreifen als die Hamas – jedenfalls keinen, der auch nur annähend einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung hätte. Soll also eine dauerhafte Lösung gefunden werden, so wird Israel gar nicht anders können, als mit der Hamas zu verhandeln.

In diesen Verhandlungen wird die Hamas sich zu allererst verpflichten müssen, den Raketenbeschuss Israels ein für alle Mal einzustellen. Ohne diesen Schritt geht es nicht. Aber umgekehrt wird auch Israel den Menschen im Gazastreifen dafür einen deutlichen Zugewinn an Freizügigkeit gewähren müssen. So lange die Menschen in diesem überbevölkerten, heruntergekommenen, verarmten, verdreckten und nun auch in weiten Teilen zerstörten Stück Land hinter Mauern gehalten werden, werden die Extremisten dort immer Zulauf haben. Daher müssen sich die Checkpoints öffnen – in beide Richtungen –, der zerstörte Flughafen muss wieder errichtet und der lange geplante Hafen gebaut werden.

Mit diesem Schritt – Einstellung des Raketenbeschusses gegen Freizügigkeit – ist jedoch eine nachhaltige Lösung noch längst nicht erreicht. Solches zu behaupten wäre mehr als kurzsichtig. Denn zu Recht fürchtet sich Israel vor einer neuen Generation von Selbstmordattentätern, die dann durch die Checkpoints strömen könnten. Der entscheidende Punkt liegt daher auf einer anderen Ebene solcher Verhandlungen. Die Vertreter der Hamas werden begreifen müssen: Solche Freizügigkeit kann uns nur von jemandem gewährt werden, den wir selbst in seiner berechtigten Existenz anerkennen und dessen Vernichtung für uns fortan weder explizites noch implizites Ziel ist.

Es schmerzt zu erleben, für wie viele Menschen in der arabischen Welt Israel weiterhin nur ein vorübergehendes Phänomen ist, welches irgendwann wieder von der Erde verschwinden wird. Darüber darf die Weltöffentlichkeit nicht hinweg sehen. Und Israel selbst kann um des Lebens seiner Bürger willen darüber nicht hinweg sehen. Die unzweideutige Anerkennung des Existenzrechts Israels ist Kern der Lösung. Nach diesem Krieg muss Schluss sein mit strategischen Waffenstillständen, in welchen nur die nächste Phase des Kampfes vorbereitet wird. Es muss beiden Seiten endlich klar werden: dass da ein Israel ist und ein Palästina, und dass beide Seite an Seite werden leben müssen, wenn es denn überhaupt eine Zukunft geben soll.

Diese Einsicht zu erreichen, ist wohl nur durch ein erhebliches Maß an vertrauensbildenden Maßnahmen möglich: Begegnungen, Gespräche, ein Erfahren der Perspektive des Anderen, eine Ent-Feindung des Gegners. Schon deswegen liegt es in Israels ureigenstem Interesse, als ersten Schritt den Dialog mit der Hamas aufzunehmen. Die Anerkennung Israels durch die Hamas (und idealerweise nach und nach dann auch durch andere Protagonisten in den muslimischen Nachbarländern) muss ein Resultat dieses Dialoges sein. Die Aufnahme des Dialoges selbst wäre ein erster Schritt zu einer solchen Anerkennung. Denn der, mit dem ich rede, dessen Existenz lässt sich schwer bestreiten. Eine solche Anerkennung aber zur Voraussetzung des Dialoges zu machen, hieße jedoch, den Dialog im Keim zu ersticken.

Und dann wird es auch rasch sichtbare Erfolge geben müssen, die den Menschen zeigen: Es lohnt sich, diesen Weg weiter zu gehen. Alle – Israel, die arabische Welt und die internationale Gemeinschaft – werden sich anstrengen müssen, die Trümmer des Gazastreifens wieder aufzubauen. Es gab zu den Hoch-Zeiten des Oslo-Prozesses für den Gazastreifen einmal die Vision eines „Hongkong des Nahen Ostens“. So viel Vollmundigkeit wagt niemand mehr, und wahrscheinlich sollten die Visionen heute etwas bescheidener aussehen. Aber ein Stück Erde, auf dem es sich leben und überleben lässt, auf dem relativ akzeptable Bildungschancen bestehen, wo es sauberes Wasser gibt und zumindest für den allergrößten Anteil der Menschen eine Perspektive, die eigene Familie zu ernähren, ohne permanent von Hilfslieferungen abhängig zu sein – darunter geht es nicht.

Ob nach dem gegenwärtigen Krieg eine solch gewagte Perspektive überhaupt in den Bereich des Denkbaren rücken wird? Das Blut der Opfer des gegenwärtigen Waffenganges schreit zum Himmel. Diejenigen auf beiden Seiten, die dieses Blutvergießen herbeigeführt oder es einfach haben geschehen lassen, wären es den Opfern schuldig.

Uwe Gräbe


Zur Person:
Uwe Gräbe seit 2006 evangelischer Propst von Jerusalem. In seiner Funktion ist er erster Pfarrer an an der Erlöserkirche und Repräsentant der EKD im Heiligen Land.