Artikel 7 des Grundgesetzes als Glücksfall

Evangelische und katholische Kirche zum Religionsunterricht

05. Dezember 2008


Jürgen Habermas war auch dabei. Nicht persönlich, aber doch in fast aller Munde bei der Tagung „Religion an öffentlichen Schulen“, die die EKD zusammen mit der Deutschen Bischofskonferenz, der Katholischen und der Evangelischen Akademie in Berlin in der Französischen Friedrichstadtkirche veranstaltet hatte. So präsent war der deutsche Philosoph, dass man ihm am liebsten einen eigenen Stuhl auf dem Podium in der vollbesetzten Kirche eingeräumt hätte; und so tonangebend, dass sich auch Lothar Bisky, dem sicherlich keine überbordende religiöse Musikalität unterstellt werden kann, bemüßigt fühlte, sich so schnell wie möglich als Habermas-Leser zu bekennen.

Den Anfang hatte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz gemacht, Erzbischof Robert Zollitsch. Er erinnerte an Habermas’ Zweifel daran, dass eine rein säkulare Ethik den „die Substanz des Humanen“ betreffenden Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden könne. Zollitsch zitierte die berühmte Überzeugung des Philosophen, dass nur diejenige moderne Gesellschaft ebendiese Substanz des Humanen werde retten können, „die wesentliche Gehalte ihrer religiösen, über das bloß Humane hinausweisenden Überlieferung in die Bezirke der Profanität einbringen kann.“ Und mit Blick auf den im Fokus der Tagung stehenden Religionsunterricht folgerte der Erzbischof: „Wenn diese Diagnose zutrifft, dann liegt die Pflege religiöser Überlieferungen im öffentlichen Raum im Interesse aller. Dann wäre es auch fahrlässig, den Religionsunterricht aus der öffentlichen Schule zu verbannen oder“ – und die folgenden Worte fügte Zollitsch wohl angesichts der besonderen Situation an Berliner Schulen hinzu, in denen Religion ab der 7. Klasse nicht als Wahlpflichtfach angeboten wird – „ihn zu marginalisieren“. Vor diesem Hintergrund bilanzierte der Erzbischof: „Gäbe es die grundgesetzliche Garantie des Artikels 7 nicht, müsste man sie heute glatt erfinden.“

Erfindungsgeist war also nicht vonnöten – darüber freute sich auch der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber. Er lobte besagten Grundgesetzartikel, der den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach ausweist, das in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt wird, als „zu den Glücksfällen der Geschichte“ gehörend. Denn damit sei die Aufgabe des Staates, Religion als Bildungsgegenstand zu gewährleisten und dabei so zu gestalten, dass Religionsfreiheit gewahrt bleibe, „überzeugend gelöst“, und im konfessionellen Religionsunterreicht weder „eine großzügige Geste des Staates“, noch „ein Privileg der Kirchen“ zu sehen. Für dringend nötig hält Huber allerdings Widerspruchsgeist, und zwar mit Blick auf die Lage des Religionsunterrichts in der Hauptstadt: Ein staatlicher Pflichtunterricht in weltanschaulichen Fragen, wie er dort eingeführt wurde, verfehle die freiheitlich-demokratischen Prinzipien und reduziere die Bildungsaufgabe der Schule in unverantwortlicher Weise. Huber betonte: „Religions- und Ethikunterricht sind Dialogpartner.“ Ein Dialog, der in Schule und Gesellschaft Verstehen und Toleranz fördere, könne allerdings nur gelingen, wenn kein Partner benachteiligt werde. Aus diesem Grunde unterstützten die beiden großen Kirchen das Ziel eines Berliner Volksbegehrens, eine Gleichberechtigung des Religionsunterrichts mit dem Ethikunterricht herbeizuführen.

Wortgewaltige Hilfe bei diesem Vorhaben erhielten die Kirchen im Tagungsverlauf auch von hochrangigen Vertretern aus der Politik. Während Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse bekannte, den Versuch zu wittern, in Berlin eine Art Weltanschauungsunterricht einzuführen, und sich daher ganz konkret für die Wahlfreiheit an Berliner Schulen aussprach, führte Bundestagspräsident Norbert Lammert wie Vorredner Zollitsch noch einmal in Habermas’sche Höhen. Er betonte, Religion sei „ein Großthema der Menschheit“, und weder das soziale Gefüge noch das Zusammenleben von Menschen noch die politische Verfassung einer Gesellschaft seien ohne religiöse Bezüge zu begreifen - „Kulturen schon gar nicht“. Der Bundestagspräsident erinnerte an den „damals verblüffenden Konsens“ von Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger, die beide die Kultur des Glaubens und die Kultur der Vernunft als die beiden großen Kulturen des Westens beschrieben hätten, welche erst in dieser wechselseitigen Bezüglichkeit und Relativierung ihre prägende Kraft gewonnen hätten. Dies sei ein starkes Indiz dafür, dass eine nüchterne Betrachtung von Zusammenhängen zur Identifizierung dieser Faktoren als unaufgebbare Kategorien der Verständigung und der Orientierungen in modernen Gesellschaften gehören. Lammert bekräftigte, dass der Verzicht auf Religion also keineswegs eine „Garantie für Modernitätszuwachs noch für einen Humanitätsgewinn“ in einer Gesellschaft sei, und sprach den meisten Anwesenden aus dem Herzen: „Der Beitrag der Religion in modernen Gesellschaften ist unverzichtbar“.