“Verkündigung muss politisch relevant sein”

Präses Jürgen Schmude im idea-Interview

24. Mai 2002


Hat die evangelische Kirche politische Macht? Wohl kein anderer Kirchenmann kann diese Frage im Gespräch mit K.Rüdiger Durth so kompetent beantworten wie der Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Jürgen Schmude (65). Denn er selbst hat lange Zeit selbst politische Macht in Händen gehabt: 25 Jahre Bundestagsabgeordneter der SPD, viele Jahre Bundesminister für Bildung und Wissenschaft sowie Justiz, sogar für 14 Tage zusätzlich Bundesinnenminister. Zuvor war er Parlamentarischer Staatssekretär und nach dem Bruch der sozial-liberalen Koalition war er lange stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Als er 1985 zum Präses der EKD-Synode gewählt wurde, legte er bis auf sein Bundestagsmandat alle anderen politischen Ämter nieder.

idea: Nicht selten liest sich die Tagesordnung von Synoden der EKD wie die eines Parlaments. Mutet sich die Kirche nicht zuviel zu?

Schmude: Parlamente in Deutschland arbeiten inzwischen sehr professionell. Für kirchliche Synoden ist es durchaus empfehlenswert, von dort entwickelten Verfahren einiges anzunehmen. Inhaltlich gibt es ähnliche Themen, aber auch viele Synodenpunkte, die nie in einem Parlament eine Rolle spielen würden. Und die Fülle des Stoffs? Die eine Sitzungswoche der EKD-Synode jährlich ist mit Arbeit ausgefüllt. Wir sind mit ihr noch immer fertig geworden.

Der Druck auf die Kirche ist oft groß ...

idea: Bringt sich die Kirche nicht selbst um ihre Wirkung, wenn sie zu allen aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen Stellung bezieht?

Schmude: Darauf wird inzwischen mehr und mehr geachtet. Der Druck ist oft groß und verführerisch, die Kirche möge zu diesem und jenem auch noch Stellung nehmen. Tut sie es nicht, hageln Vorwürfe. Aber Kirchenleute wollen sich so nicht vorführen lassen, sondern wählen aus, was sie an politischen Themen behandeln.

Die EKD ist nicht mehr “zu politisch”

idea: Immer wieder wird behauptet, die EKD sei zu politisch. Damit ist freilich oft parteipolitisch gemeint. Zu Unrecht?

Schmude: Diese Klage hat es früher oft gegeben. Wer sie heute erlebt, zitiert frühere Zeiten. Belege aus der Gegenwart werden selten genannt. Und dann oft von denen, die gegen die politische Äußerung der Kirche eigentlich nichts haben, wenn sie nur nicht ihrer eigenen Auffassung widersprechen würde.

idea: Hat die Kirche überhaupt ein politisches Mandat?

Schmude: Politische Mandate haben Abgeordnete und Parlamente. Wenn die von der Kirche verkündigten und erläuterten Gebote Gottes aber im Leben der Menschen wirksam werden sollen, dann muss Verkündigung politisch relevant sein. Auch so zu reden, folgt nicht aus einem politischen, sondern aus dem geistlichen Mandat der Kirche.

idea: Nicht nur die Kirchen sind durch eigene Büros bei Bundestag und -regierung vertreten, sondern auch die Parteien und ihre Bundestagsfraktionen verfügen über eigene Kirchenbeauftragte. Handelt es sich dabei um gegenseitigen Lobbyismus?

Schmude: Dass man sachkundig miteinander redet, Informationen austauscht und auf Probleme hinweist, ist rundum vernünftig. Wenn dabei die eine Seite die andere für ihr Interesse gewinnen will, muss die andere eben aufpassen. Erfahrene Beauftragte können dabei gute Dienste tun.

“Kirchlichen Druck habe ich niemals erlebt”

idea: Sie selbst haben 25 Jahre dem Deutschen Bundestag angehört, waren Parlamentarischer Staatssekretär und Bundesminister. Gab es in Ihren politischen Ämtern kirchlichen Druck?

Schmude: Kirchlichen Druck habe ich niemals erlebt. Scharfe kirchliche Kritik etwa zu Paragraph 218 hat es durchaus gegeben. Politiker sollen das zum Anlaß nehmen, ihr Gewissen zu prüfen. Im übrigen müssen sie es aushalten. Und wenn dann hinter den Kulissen besorgte Fragen und Hinweise von Kirchenleuten zur deutlichen Mahnung wurden, war das durchaus hilfreich.

Die Denkschriften der EKD ...

idea: Die Denkschriften der EKD finden in der Regel die größte öffentliche Aufmerksamkeit. Wie groß schätzen Sie ihre politische Wirkung ein?

Schmude: Die politische Wirkung der EKD-Denkschriften ist unterschiedlich. Die Ost-Denkschrift von 1965 hat geholfen, die politische Landschaft zu verändern. Andere Denkschriften, etwa die Friedensdenkschrift 1981 und die Demokratie-Denkschrift von 1985 sind stark beachtet worden und haben längerfristig ihre Wirkung entfaltet. Im ganzen gesehen haben diese zumeist sehr gehaltvollen Schriften beachtlichen Erfolg.

idea: Unter der Vielzahl der Denkschriften ragen vor allem die gerade von Ihnen genanten Denkschriften heraus. Liegt ihre Bedeutung nur an den Themen?

Schmude: Die Wirkung ergibt sich aus dem Thema und inhaltliche Neuansätzen in den Denkschriften, die sich den Leserinnen und Lesern als das darstellen, was jetzt dran ist, was andere aber so nicht gesagt haben. Ein Thema allein bringt es nicht. Mutig formulierte Lösungsvorschläge müssen schon hinzukommen.

“Gemeinsame Worte” – doppelte Wirkung

idea: In den zurückliegenden Jahren haben die “Gemeinsamen Worte” der evangelischen und katholischen Kirche immer mehr Bedeutung erlangt. Haben kirchliche Erklärungen nur noch Wirkung, wenn sie gemeinsam vorgebracht werden?

Schmude: Ich wünsche mir bald wieder das eine oder andere gemeinsame Wort der evangelischen und der katholischen Kirche. Es hat sich gezeigt, dass sie ihr Gewicht mehr als verdoppeln können, wenn sie gemeinsam sprechen. Fachlich hervorragend muss es natürlich immer sein.

idea: Wie beurteilen Sie die Wirkung des gemeinsamen Konsultationsprozesses “Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland” der seinen Abschluss Anfang 1977 mit einem Gemeinsamen Wort gefunden hat?

Schmude: Man konnte schon die Sorge haben, dieses gemeinsame Wort 1997 werde tot gelobt. Doch die Diskussion über die Wirtschafts- und Sozialpolitik ist von diesem gemeinsamen Wort über lange Zeit stark geprägt worden. Noch heute kommt man darauf zurück.

idea: Müssen sich nicht noch mehr Christen in den politischen Parteien engagieren?

Schmude: Natürlich sollten Christen ihre Bedenken und ihre Trägheit überwinden und das Engagement sowie den Kompromiss wagen, die mit der Arbeit in einer politischen Partei verbunden sind. Ohne Parteien geht es nicht, auch wenn man noch so viel schimpft. Also sollte man in ihnen arbeiten und die reichlichen Möglichkeiten zur Veränderung ihrer Politik nutzen.

Bestechlichkeit – kein Thema für die Kirche?

idea: Spendenaffären und Bestechlichkeit in der Politik scheinen inzwischen zum Alltag zu gehören. Ist das kein Thema für die Kirche?

Schmude: Da die Kirche zur Übernahme von Verantwortung in der Demokratie aufruft und sie als “Angebot und Aufgabe” bezeichnet, sieht sie Vorgänge mit großer Sorge, die das Vertrauen der Menschen in diese Staatsform erschüttern. Das zu äußern, hat nichts mit moralischer Verurteilung zu tun. Auch Christen sind nicht von Fehlern frei, und manche von Affären betroffenen Politiker sind selbst Christen. Die Kirche sieht es als ihre Aufgabe an, die Demokratie vor Beschädigungen zu bewahren. Deshalb die Forderung nach entschiedener Aufklärung.

idea: Auf welchen politischen Feldern muß Ihrer Meinung nach die Kirche aktiver werden?

Schmude: Da, wo langfristige politische Fehlentwicklungen Schaden anzurichten drohen, Politiker mit Rücksicht auf den Wählerwillen aber vor einschneidenden Kursänderungen zurückschrecken, dort hat die Kirche Chancen und Aufgaben. Nicht, dass sie es besser wüsste, aber sie kann es freier aussprechen. So ist zum Beispiel mit Händen zu greifen, dass die Versorgung der Alten nicht in der bisherigen Weise fortgeführt werden kann; sie wird unbezahlbar. Es genügen ja schon erträgliche Korrekturen, sozial gerecht abgestuft. Die Kirche sollte der Politik helfen, den Zorn der Betroffenen über solche Einschnitte zu dämpfen und ihr Verständnis für die notwendigen Eingriffe zu gewinnen.

idea: Wir danken für das Gespräch.


Quelle: idea-Pressedienst Nr. 57 vom 23. Mai 2002