"Nicht jede Kritik an Israel ist Antisemitismus"

EKD-Ratsvorsitzender Kock im SWR-Tagesgespräch

12. April 2002


Nahost-Konflikt
Anke Hlauschka, im SWR-Tagesgespräch mit Präses Manfred Kock (EKD-Ratsvorsitzender)
12. April 2002

Der Nahost-Konflikt ist nach Ansicht des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Manfred Kock, nicht mit militärischer Gewalt zu lösen. Um das Zusammenleben in der Region zu gewährleisten, sei vor allem Friedensarbeit erforderlich, so Kock im Südwestrundfunk. Für viele Israelis sei das Vorgehen der Armee verständlich, denn die palästinensischen Selbstmord-Attentate seien für die Bevölkerung schrecklich. Die Stimmung werde angeheizt von islamistischen Ideologen, die die Vernichtung Israels forderten. Gleichzeitig müsse aber Kritik geübt werden. Kock wies auf das Leiden der palästinensischen Bevölkerung hin.

Hlauschka: Der US-Außenminister wird heute mit Scharon und morgen mit Arafat zusammentreffen. Haben Sie denn auch nur eine kleine Hoffnung, dass er die Gewalt in dieser Region stoppen kann?

Kock: Ob er es jetzt schafft, weiß ich nicht. Aber es gibt keine andere Wahl. Die internationale Staatengemeinschaft hat schon viel zu lange gewartet. Die streitenden Parteien schaffen es nicht, auseinander zu kommen und die Gewalt zu beenden. Deshalb muss das von außen auch gewährleistet werden.

Hlauschka: Israels Scharon teilt heute mit, die Offensive der Palästinenser werde nicht gestoppt, er schließt einen Truppen-Rückzug aus. Israel übt Rache nach den Selbstmord-Attentaten, will weitere verhindern. Rechtfertigt der Kampf gegen den Terror das israelische Vorgehen?

Kock: Zunächst einmal glaube ich, dass das israelische Vorgehen für viele Israelis verständlich ist. Denn die palästinensischen Selbstmord-Attentate sind so schrecklich auch für die israelische Bevölkerung und sie werden angeheizt von islamistischen Ideologen, die eigentlich den Schrei ausstoßen, Israel muss vernichtet werden. Das ist jetzt nicht einfach eine Reaktion auf Scharon, sondern diese Mentalität gibt es unter den Islamisten. Sie richtet sich übrigens nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen den Westen.

Hlauschka: Aber wenn Sie zum Beispiel die jüngsten Bilder aus dem Flüchtlingslager Dschenin sehen, geht die Brutalität von Scharons Soldaten gegenüber den Palästinensern nicht schon weit über das alttestamentarische Auge um Auge, Zahn um Zahn hinaus?

Kock: Das ist in der Tat die große Frage. Da muss auch Kritik geübt werden. Ich wollte nur zunächst sagen, man muss diese eine Seite sehen und darf sie nicht unterschlagen. Aber das ist richtig, die Zerstörung aller palästinensischen Infrastrukturen und die Leiden der Menschen sind ungerecht. Das muss auch kritisiert werden dürfen. Da kann man sich auch auf Israelis berufen - auf den früheren Botschafter Primor, den ich kenne und auf Ralph Giordano, der hier in Köln einer ist, der sagt, die Menschenrechte sind nicht teilbar und sie dürfen den Palästinensern nicht vorenthalten werden. Das muss kritisiert werden dürfen. Und nicht jede Kritik an Israel ist Antisemitismus - das muss man deutlich sagen.

Hlauschka: Die Kritik an der israelischen Politik wird mittlerweile auch in Deutschland lauter. Und hier beklagt der Präsident des Zentralrats der Juden das mangelnde Verständnis der Deutschen für die israelischen Militäraktionen. Also ihm fehlt offenbar die ausreichende Solidarität der Deutschen mit Israel. Wie empfinden Sie das?

Kock: Ja, ich sagte gerade, es ist nötig, solidarisch zu sein mit den Ängsten Israels um seine Existenz. Das ist in der Tat immer wieder kolportiert worden, und es wird auch immer wieder berichtet über die Scharfmacher auf der islamistischen Seite. Die Frage ist nur - und da müssen auch, glaube ich, die Juden in unserem Land akzeptieren, da unter ihnen selbst die Kritik laut wird. Die Soldaten, die sich verweigert haben, jetzt weiter an diesen Dingen mitzumachen, begründen das ja gerade mit der Unverhältnismäßigkeit dieser Aktionen, die von Scharon angeordnet werden. Das muss kritisiert werden. Und das ist der Grund, weshalb deutlich ist, dass wir militärisch die Konflikte nicht lösen. Es ist eine Friedensarbeit nötig, damit das Zusammenleben in dieser Region gelingt.

Hlauschka: Aber gerade wir Deutschen müssen sehr genau überlegen, ehe wir in dieser Situation Position beziehen. Darf Deutschland trotz oder gerade wegen seiner Geschichte die israelische Politik kritisieren?

Kock: Ich glaube, das muss möglich sein, trotz der Geschichte und wegen der Geschichte. Weil es ja auch nötig ist, dass ein Land, das einen neuen Weg gegangen ist und sich auf Menschenrechte verpflichtet, nicht nur deshalb, weil es selbst eine menschenrechtsvernichtende Geschichte hat, sich jeder Kritik entzieht. Ich glaube auch nicht, dass das, was im Dritten Reich passiert ist, in irgendeiner Weise vergleichbar ist mit dem, was jetzt dort geschieht. Das sind Kriegsaktionen, die schrecklich sind, die unsere palästinensischen Mitbürger und Freunde, auch unsere kirchlichen Partner dort in große Not hineinjagen. Und von denen kriegen wir signalisiert, ihr lasst uns allein dort. Und insofern, glaube ich, muss akzeptiert werden, dass wir auch in Deutschland uns an dieser Geschichte
auch kritisch beteiligen gegenüber beiden Seiten.

Hlauschka: Nicht jede Kritik an Israel ist antisemitisch, haben Sie gerade gesagt. Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrates, sieht den Antisemitismus in Deutschland derzeit wieder steigen. Kann es sein, dass jetzt unter dem Vorwand der Kritik an Israel auch viel Verborgenes wieder rauskommt?

Kock: Das ist sicher möglich. Es ist eben dann sozusagen die Bestätigung eines Rasters, das vorhanden ist. Aber wir können dieses Raster des Judenkritischen an dieser Stelle doch nicht dazu benutzen, um überhaupt nichts zu sagen. Wir müssen dann auch gegen antisemitische Überheblichkeit streiten. Übrigens sind ja die Palästinenser auch Semiten. Und insofern geht es in der Tat wegen unserer Geschichte um das Antisemitische gegen die Juden. Das ist in der Tat in der Bevölkerung vorhanden. Deshalb ist es so schwer. Deshalb sind wir auch zögerlich in der Kritik gewesen über längere Zeit. Jedenfalls wir in den Kirchen haben immer wieder gesagt, es geht darum, dass die internationale Staatengemeinschaft sich dort beteiligt, um etwas deutlicher dort die Kräfte auseinander zu halten und den Oslo-Prozess in einen Weg hineinlenken, der beiden Seiten ein Lebensrecht ermöglicht. Das ist ja das große Ziel. Paul Spiegel selbst ist ja ein Mann, der auch deutlich sagt, es muss ein Lebensrecht für einen palästinensischen Staat geben - wenigstens habe ich ihn so zitiert gehört. Das, finde ich, ist deutlich. Das muss man auch mit Juden gleichzeitig sagen, die wissen, wir können dort an dieser Stelle nicht auf Dauer bleiben, wenn es nicht zur Friedenslösung kommt.

Quelle: SWR 2002