"Antisemitismus ist eine Krankheit"

Interviews des EKD-Ratsvorsitzenden zum Thema

05. Juni 2002


Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Manfred Kock, hat am 5. Juni 2002 dem Deutschlandfunk und der Stuttgarter Zeitung Interviews zum Thema Antisemitismus gegeben, die nachfolgend gelesen werden können:

Stuttgarter Zeitung vom 05. Juni 2002

"Antisemitismus ist eine Krankheit"
EKD-Chef Manfred Kock nennt den Stimmenfang der Liberalen verantwortungslos

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Spiegel, hat im Antisemitimus-Streit mit der FDP eine breite gesellschaftliche Unterstützung gefordert. Peter Koard fragte den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Manfred Kock, wie er die derzeitige Auseinandersetzung einschätzt.

Wie sehen Sie den bisherigen Wahlkampf?

Bislang bin ich positiv überrascht worden. Es gibt zurzeit weder persönliche Verunglimpfungen noch Schmutzkampagnen. Das würde auch nur die Politikverdrossenheit fördern. Gleichwohl droht im Wahlkampf immer die Gefahr, dass die Wahrheit auf der Strecke bleibt und mit Floskeln und Schablonen auf Stimmungen gesetzt wird. Da ich die Debatte um das Zuwanderungsgesetz noch gut in Erinnerung habe, glaubte ich, dass die Parteien durchaus anfällig dafür sind.

Im Moment geht es ja vor allem um den Antisemitismus-Streit zwischen dem FDP-Vize Jürgen Möllemann und dem Zentralrat der Juden in Deutschland.

Wir alle, und Politiker besonders, haben dafür Sorge zu tragen, dass antisemitische Auffassungen eingegrenzt und bekämpft werden. Antisemitismus ist eine Krankheit der europäischen Kultur, und es muss alles getan werden, dass er nicht aus dem Stammtischgewabere auch noch in anderen Bereichen der Gesellschaft salonfähig wird. Es ist schlimm, dass jüdische Einrichtungen beschädigt und Menschen jüdischen Glaubens bedroht werden. Dieser Unkultur darf nicht auch noch Vorschub geleistet werden. Genau das hat Möllemann nicht beachtet. Er hat sich sogar damit gebrüstet, dass er viel zustimmende Zuschriften für seine problematischen Äußerungen bekommen hat. Das macht die Sache schlimmer.

Gibt es Wählerstimmen, die eine Partei lieber nicht annehmen sollte?

Es gibt Stimmen von Wählern, auf die die Parteien besser keinen Wert legen sollten, um ihres demokratischen Selbstverständnisses willen. Die FDP hat genügend Persönlichkeiten, die dafür stehen, dass sie nicht in die Ecke der Rechtspopulisten wie Haider gerückt werden kann. Ich appelliere an alle demokratischen Kräfte, künftig genauer darauf zu achten, was einzelne Parteienvertreter zu sensiblen historischen Fragen und dem Umgang mit Minderheiten in unserem Land zu sagen haben.

Die FDP nimmt es aber ausdrücklich in Kauf, Wähler vom rechten Rand für sich zu gewinnen.

Man kann den Eindruck gewinnen, als habe es die Partei darauf angelegt, Stimmen um jeden Preis für sich zu gewinnen. Mit antisemitischen Signalen um die Stimmen von deutschen Muslimen zu werben, halte ich für verantwortungslos. Aber in der Antisemitismus-Debatte wird eine Bemerkung Möllemanns gar nicht mehr erwähnt, die ich für viel bedenklicher halte: als er mit Blick auf den Nahostkonflikt meinte, wenn sein Vaterland angegriffen würde, würde er sich auch im Lande des Gegners zur Wehr setzen. Das klingt, als seien palästinensische Selbstmordattentäter für ihn Patrioten. So etwas darf ein Politiker in unserem Land nicht sagen.

Wird in Deutschland zu schnell der Vorwurf des Antisemitismus erhoben?

Antisemitismus ist zum Schlagwort geworden, das für vieles herhalten muss. Ich glaube nicht, dass eine Kritik an der gegenwärtigen israelischen Regierung schon an sich antisemitisch ist. Doch sie muss sachgerecht sein und darf in ihrer Terminologie dem Antisemitismus keine neue Nahrung geben. Ich wünsche mir, dass sachliche Kritik an der Politik Israels nicht als antisemitisch verdächtigt wird. Die Menschen in unserem Land verstehen nicht, weshalb die demokratisch gewählte Regierung Israels sich unbequemen Fragen nicht stellen will.

Sollte Ariel Scharon kritisiert werden?

Wer den Nahostkonflikt sorgfältig beobachtet, der wird Herrn Scharon mit guten Gründen eine Menge kritischer Fragen stellen können, genauso wie Herrn Arafat. Wir haben in den Kirchen auch unsere Solidarität mit den Opfern der Gewalt auf beiden Seiten zum Ausdruck gebracht.

In dem Streit zwischen der FDP und dem Zentralrat der Juden scheint sich aber keine Ende abzuzeichnen.

Ein Dauerkampf ist für keine der beiden Seiten hilfreich. Man sollte aufeinander zugehen, denn nur das persönliche Gespräch wird diesen Konflikt letztlich lösen können.

Quelle: Stuttgarter Zeitung


Deutschlandfunk - Interview vom 05. Juni 2002

Vom Stammtischgerede zum politischen Kampfinstrument: Antisemitismus in Deutschland
Martin Gerner im Gespräch mit Manfred Kock, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche

Gerner: Guten Morgen, Manfred Kock, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Kock: Einen schönen guten Morgen nach Köln.

Gerner: Herr Kock, Herr Spiegel sagt, ein Aufstand der Demokraten, den musste es jetzt geben. Ist die Demokratie in Gefahr?

Kock: Im Prinzip nicht, aber sie ist bedroht. Sie wird immer bedroht durch diese Unkultur, durch diese Krankheit der europäischen Kultur, die man Antisemitismus nennt, und das macht sich jetzt wieder breit.

Gerner: Etwas genauer: Wie sieht die Bedrohung aus?

Kock: Das was sonst an Stammtischen vorhanden ist und was in vielen Köpfen wabert ist jetzt durch eine gezielte politische Propaganda-Aktion sozusagen zum politischen Kampfinstrument geworden. Herr Möllemann will oder wollte, ich weiß nicht, ob er es noch will, aber jedenfalls hat er alles dazu getan, den Eindruck zu erwecken, seine Wählerstimmen in diesem rechten Spektrum zu suchen. Er hat den Juden die Schuld am Antisemitismus zurückgespielt. Er hat sich dann sogar noch dafür gerühmt, dass er nun wahnsinnig viel Beifall für diese Geschichte kriegt. Ausgelöst war es ja eigentlich durch eine Kritik an der gegenwärtigen Politik Israels, aber die Art und Weise, wie er es verbreitet hat, hat eben dazu geführt, dass die Menschen doch wissen: Aha, es sind die Juden! Und das ist eben eine Förderung des Antisemitismus, den eine demokratischer Politiker nicht betreiben darf.

Gerner: Sie haben ja auch eben die Straßenumfrage gehört. Was hören Sie da raus - einen Wunsch nach Normalität?

Kock: Ja. Natürlich möchten die Deutschen normal sein. Sie wehren sich gegen den Antisemitismusvorwurf, weil er sie an die deutsche Kriegslust und an die industrielle Menschenvernichtung erinnert. Das ist ja sozusagen im Hintergrund. Das möchten sie von sich weghaben. Und gerade damit aber wird diese Mentalität geschürt, weil die Normalität ja nicht zu sehen ist, denn jüdische Landsleute, Bürger unseres Staates müssen hinter bewachten Synagogen ihren Gottesdienst machen, werden als Person bedroht, brauchen Personenschutz in einem bisher ungekannten Maße, und das ist ein Ausdruck für Unnormalität, und aus diesem Grunde ist Antisemitismus eine gefährliche Seuche.

Gerner: Gibt es da einen Bruch zwischen politischer Klasse in Deutschland und der Bevölkerung?

Kock: Das glaube ich nicht. Es gibt ja eben, wie wir sehen, in der politischen Klasse Leute, die eben dieses Gewaber auch für sich nutzen wollen. Befragungen sagen, es seien 15 oder 18 Prozent - es ist ja auch interessant, dass genau diese Zahl da plötzlich eine Rolle spielt - derer, die so latent und antisemitisch eingestellt sind, aber das ist nicht die Mehrheit in unserem Land. Wir sind eigentlich ein gesichertes, demokratisches System. Es muss erlaubt sein, eine bestimmte Politik zu kritisieren, auch die Politik im Nahen Osten, weil sie ja auch die ganze Welt bedroht. Wenn das so weiter geht, muss da zum Frieden gefunden werden, und ich würde mich dagegen wären, wenn diese Kritik selbst schon antisemitisch genannt wird. Das ist nicht der Fall, sondern es geht eben um die Frage, was man mit dieser Kritik verbindet. Man richtet sie gegen die Juden insgesamt. Man sagt, die sind immer schon so gewesen. Darauf dürfen Politiker nicht setzten. Das ist unerlaubt, weil das Recht Israels auf einen eigenen Staat auch in dieser Welt immer wieder bestritten wird, und dagegen müssen sie sich zur Wehr setzten. Dann kann man allenfalls die Formen, in denen das geschieht, kritisieren, aber nicht den Grundsatz.

Gerner: Herr Kock, Ruhe auf jüdischen Friedhöfen in Deutschland ist nicht so normal wie auf christlichen. Können Sie, kann Ihre Kirche da etwas tun?

Kock: Wir können uns eben in diesen Appell einreihen. Ich habe das in den letzten Tagen in vielen Interviews getan, und wir sind in unseren Gemeinden auch in der Diskussion. Ich habe an alle Gemeinden einen Brief geschrieben, mit der Bitte, diese Fragen zu diskutieren, damit Menschen aus dieser unnormalen Situation herauskommen: Nicht mal die Friedhofsruhe wird respektiert. Das sind aber, so bin ich sicher, nicht diejenigen, die wirklich mit Ernst Christen sind und sich eben in unserem Lande dafür einsetzten, sondern es sind Desperados, die so herumwabern, und da hat die Gesellschaft als ganze einschließlich der Kirchen ihre Aufgabe.

Gerner: Wenn Sie Jürgen Möllemann gegenüberstünden, was würden Sie ihm sagen?

Kock: Sag ein Wort der Entschuldigung!

Gerner: Manfred Kock war das, Ratsvorsitzender der evangelischen Kirche.

Quelle: Deutschlandfunk


dpa vom 05. Juni 2002

EKD-Ratsvorsitzender Kock fordert Ende der Antisemitismus-Debatte

Hannover (dpa) - Der Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Manfred Kock, hat ein Ende der Antisemitismus-Debatte in Deutschland gefordert. «Jetzt muss bald Schluss sein, weil es niemandem mehr dient, das Thema weiter hin und her zu wenden», sagte Kock der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in Hannover.

FDP-Vize Jürgen Möllemann rate er, «ein Wort der Entschuldigung» abzugeben. Er müsse klarstellen, dass er diese Form des Wählerfangs wirklich nicht beabsichtigt habe und auch fortan nicht beabsichtige.

Möllemann habe seine Kritik an Israels Politik in einer Form vorgetragen, die «bedenkliche antiisraelische und antisemitische Nuancen» gehabt habe. Er habe den Terrorismus der Palästinenser indirekt gerechtfertigt. Kock: «Das sollte ein Politiker bei uns nicht sagen.» Auch die Aussage, Zentralrats-Vize Michel Friedman fördere den Antisemitismus, sei «unerträglich» gewesen. «Das Schlimmste war jedoch, dass er sich auch noch gerühmt hat, dass er dafür so viel Zustimmung gekriegt hat.» Das sei das eigentlich Bedenkliche an der Sache, meinte Kock.

Von der europäischen Zivilisationskrankheit Antisemitismus seien die Deutschen in einer bestimmten Phase der Geschichte besonders infiziert gewesen. «Und das wabert über manchen Stammtischen weiter herum», sagte Kock. Wenn jetzt auch ein Politiker anfange, damit um Prozentzahlen zu werben, halte er das «für unser Land für schwierig». «Das ist nicht nur ein Streit zwischen Möllemann und dem Zentralrat der Juden, sondern das birgt auch Gefahren für die demokratische Kultur in Deutschland.»

Er könne verstehen, dass der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, jetzt einen «Aufstand der Demokraten» fordere. «Er hat insofern recht, als dies nicht ein Problem einer politischen Partei ist, sondern ein Problem unseres Landes.» Die Menschen würden gerne die Geschichte verdrängen, die derartigen Antisemitismus ausgelöst hat. «Und indem sie das verdrängen, fördern sie den Antisemitismus, indem sie sich wieder in diese gleiche Mentalität hineinlocken lassen, indem sie sagen: Jaja, die Juden sind immer schon so.»

Quelle: dpa