Erfurt: "Ich denke an Dich, ich bete für Dich"

EKD-Ratsvorsitzender im DLF-Interview der Woche

28. April 2002


Amoklauf in Erfurt
Burkhard Birke im Deutschlandfunk-Interwiev der Woche im Gespräch mit Präses Manfred Kock, Vorsitzender des Rates der EKD
28. April 2002

Birke: "Deutschland trauert über ein unfassbares Geschehen", das waren die Worte von Bundespräsident Johannes Rau. Ratlosigkeit, Kopfschütteln und Schock bestimmen landauf, landab die Reaktionen der Verantwortungsträger der Gesellschaft und der Menschen im allgemeinen. Gerhard Schröder sprach von einem Ereignis, das alle unsere Vorstellungskraft übertreffe. Alle Erklärungsversuche seien vorläufig und griffen zu kurz, so der Bundeskanzler. Am vergangenen Freitag stürmte ein 19-jähriger in Erfurt in das Gymnasium, von dem er verwiesen worden war und tötete binnen 20 Minuten mit einer legal besessenen Pistole 16 Menschen, vornehmlich Lehrer, um anschließend sich selbst die Kugel zu geben. Präses Manfred Kock, Amokläufe, gewaltsame Attacken von Schülern gegen Lehrer sind leider ja auch in Deutschland nichts Neues. War es nur eine Frage der Zeit, bis auch bei uns das Maß der Gewalt jene Grenze überschreitet, die wir bislang nur aus den USA oder Großbritannien kennen und die die Nation jetzt in eine Art Schockzustand versetzt?

Kock: Alles, was irgendwo in der Welt an Brutalität und Bosheit existiert, kann irgendwo auch dann bei uns stattfinden. Ich glaube nicht, dass wir irgendeine heilige Insel gewesen sind. Die Art und Weise, wie Menschen heute kommunizieren, wie sie Gewalt aufnehmen, ist globalisiert, und von daher hat mich es im Prinzip nicht gewundert, dass so etwas auch bei uns passieren kann.

Birke: Nun rätseln Psychologen, Pädagogen über die Hintergründe der Tat. Gibt es einfach - Sie haben das Stichwort genannt - Gewalt, zu viel Gewalt, die präsentiert wird über die Medien, über Videospiele, über das Internet, so dass so eine Art Nachahmungseffekt entsteht?

Kock: Ich glaube, dass man sich hüten muss, eindimensional zu analysieren. Man muss wissen: Solche Vorgänge sind immer ein Komplex von unterschiedlichen Ursachen, und von denen ist allerdings, glaube ich, die Frage der Gewalt eine Ursache - die Art und Weise, wie mit Gewalt umgegangen wird in den Videospielen. Gestern habe ich im Fernsehen gesehen, wie eine maskierte Videoshow gezeigt wurde und offenbar nach ähnlichem Muster - wie das dann imitiert wird. Also mindestens die Art und Weise, wie das dann zelebriert wird von dem Amokläufer, ist ja irgendwo nachgemacht, ist irgendwo imitiert. Und insofern muss man schon wissen, dass eigentlich die Art und Weise, wie wir heute unterhalten werden, wie Jugendliche unterhalten werden, auch mit diesem Phänomen dann auch zusammenhängend; es gibt sicherlich Beziehungen.

Birke: Nun leben wir in einer freien Gesellschaft, wo Meinungsfreiheit groß geschrieben wird. Würde es da Sinn machen - wie es ja jetzt zum Teil gefordert wird unter anderem von dem Unionskanzlerkandidaten Edmund Stoiber -, gerade zum Beispiel da Schranken einzuführen bei gewaltverherrlichenden Videos, Filmen, etc.?

Kock: Ich glaube, es wäre eine Verharmlosung zu meinen, dass die Menschen lernen können, das völlig für sich selbst zu entscheiden und dann sozusagen mündig auch mit dem Grauen umzugehen. Aber wenn eigentlich so eine Kränkung, wie offensichtlich bei diesem Jungen ja berichtet wird, dass er die Leistung nicht erbracht hat, dass er verweigert wurde, dass sein Versuch, mit Hilfe eines Attestes sich doch noch in die Prüfung zu schleichen, entlarvt wurde, er sozusagen diese Verletzung hat, dann staut sich etwas auf, was dann in Verbindung mit solchen Gewalterlebnissen offenbart zu diesem Exzess geführt hat. Aber ich sage noch einmal: Es ist viel komplizierter wahrscheinlich, aber die Psychologen müssen das genau analysieren. Man kann den Täter nicht befragen, man kann nur schließen, wie es sein könnte. Und insofern glaube ich, ist es nicht einfach. Aber ich bin der Meinung, dass wir durch die Art und Weise, wie Gewalt zelebriert wird, so auch etwas wie eine Enttabuisierung haben. Ich erinnere mich an meine Kindheit. Wir haben uns auch gekloppt mit den Kindern der Nachbarstraße. Aber es gab so bestimmte Regeln, die wir einhielten - also nicht mehr nachtreten, wenn einer schon am Boden liegt, oder nicht unter die Gürtellinie hauen. Das heißt also, es gab auch dann, wenn man die Wut hatte, immer so eine Hemmschwelle noch. Und ich glaube, das muss wieder aufgebaut werden. Und da, wo durch die Art und Weise, wie es dargestellt wird in manchen Krimis und Psychoschockern, da wird eigentlich sozusagen vorgelebt, wie enthemmt wird. Und das halte ich für eines der Probleme, die in unserer Gesellschaft sind. Und insofern gebe ich denen recht, die fordern, man muss an dieser Stelle zu einer neuen Form der Selbstkontrolle kommen in den Medien, damit jugendliche Gewalt nicht solche Nachahmungen kriegt.

Birke: Präses Kock, Sie plädieren also für eine Selbstkontrolle. Wie wären nicht dafür, das nun durch schärfere gesetzliche Bestimmungen festzulegen?

Kock: Also, ich glaube, das wäre natürlich eine Möglichkeit, wenn man - auf Deutschland beschränkt - diese Sache im Griff haben könnte. Aber was über die Medien durch den Äther und von Satelliten zu uns kommt, ist ja letztlich nicht kontrollierbar. Und insofern halte ich nicht soviel davon, dass man jetzt schärfere Gesetze macht – im Bereich des Jugendschutzes ja, aber dieser Mann war ja, glaube ich, auch schon 19, und dann hilft auch der Jugendschutz nicht mehr. Selbstkontrolle und eine Kontrolle der Gesellschaft ihrer selbst, also eine Selbsterziehung der Gesellschaft, sich nicht alles vorsetzen zu lassen, durch Abschalten verweigern – diese Sender brauchen ja die Quote, sie brauchen die Werbequote usw., und da kann die Gesellschaft selbst schon insgesamt etwas machen. Wenn soviel Millionen, die sich jetzt empört haben, alle diese Dinge nicht mehr sehen würden, würden sie nicht mehr gezeigt.

Birke: Sie haben eben ein wichtiges Stichwort mit Blick auf den Täter genannt. Sie haben von Leistungsdruck gesprochen, dem dieser junge Mann von 19 Jahren offenbar nicht mehr gewachsen war. Ist denn der Druck generell zu hoch in der Schule, tut die Schule zu wenig, um auf die Menschen, auf die Individuen, zuzugehen? Tun wir in der Gesellschaft zu wenig, um den Menschen in seiner individuellen Situation besser zu unterstützen?

Kock: Mir fällt es sehr schwer, hier so auch ein einfaches Urteil zu geben - auch angesichts der Tatsache, dass hier Lehrer umgebracht wurden in einer sinnlosen Weise. Und man kann sich auch nicht vorstellen, dass jeder Mensch, der in der Schule versagt, dann zu solchen Taten kommt. Ich sage ja, es muss dann immer auch noch etwas anderes hinzukommen, was offenbar mit seiner Persönlichkeit zutun hat, über die ich nicht urteilen kann, weil ich davon nichts weiß. Ich glaube schon, dass es nachdenklich macht, wenn eben in den Schulen selbst auch sehr fixiert gesehen wird auch das, was einer bringt und was einer nicht bringt - Hänseleien, Gewalt auf dem Schulhof usw. - das sind schon solche Phänomene, wo dann solche Sache sich zusammenbraut. Ich glaube aber, dass die Schule nicht so sehr ein Problem hat mit der Frage, ob Sie Leistung erfordert, sondern wie menschlich geht man miteinander um, welche Wahrnehmung kann man machen bei Kindern, die gestört sind, welche Sensibilität entwickeln Lehrer im Miteinander auch in der Beurteilung von Kindern. Und da, glaube ich, dass manche Schulen natürlich zu viele Schüler und zu wenig Lehrer haben, dass manche Lehrer auch überfordert sind durch das, was ihnen auferlegt ist mit gestörten Kindern, die schon auch aus Elternhäusern in die Schulen hineinkommen – und darum also ein gesamtgesellschaftliches Problem, bei dem Elternhäuser und Schulen zusammenzuwirken hätten.

Birke: Präses Kock, Sie haben das Elternhaus angesprochen. Offenbar stammte ja der Täter aus einer zerbrochenen Familie. Er lebte mit seiner Mutter; der Vater und die Mutter waren getrennt. Haben wir es hier nicht auch mit einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen zu tun und hat das nicht auch mit einer Art Werteverfall - im allgemeinen -, mit einer Werteverschiebung zu tun?

Kock: Also, das jetzt in Verbindung zu bringen mit dieser individuellen Familie, fiel mir auch schwer, das darf man glaube ich auch gar nicht - diese Form von Urteil. Heute habe ich eine Boulevardzeitung gesehen, die überschreibt "Das ist der KILLER" - also, diese Aggressivität, die ihrerseits auch wieder Aggressivität weckt bei der Bevölkerung. Das darf nicht sein. Ich glaube, dass auch hier es wieder ein Baustein in dieser ganzen Tragik ist. Wir haben viele zerbrochene Familien, in denen Kinder nicht zu Attentätern werden und wo also auch mit großer Mühe erzogen wird. Und möglicherweise ist das sogar auch hier versucht worden. Aber die anderen Konstellationen, die dann dazukommen, die sind es dann, die das Böse sich artikulieren lassen. Und deswegen: Kein Urteil auf Menschen, sondern allenfalls eine Selbstbesinnung.. Was machen wir eigentlich, wir Erwachsenen, mit Kindern, die gestört sind. Welche Hilfen bieten wir ihnen an? Wo sind wir verlässlich, wo sind wir auch großzügig, wenn Fehler gemacht werden von Kindern, wenn sie schlechte Arbeiten schreiben usw.? Bedeutet das immer gleich, dass die Lebenskatastrophe in einer Familie einbricht? Das ist, glaube ich, der Punkt, und ich glaube, es ist mehr eine Mahnung zur Selbstkritik bei uns allen.

Birke: Bei uns allen Mahnung zur Selbstkritik. Die Frage dann an den EKD-Ratsvorsitzenden: Tut denn die Kirche, tun die Seelsorger genug?

Kock: Solch eine Frage zu stellen, heißt immer, zunächst einmal zu sagen ‚nein‘, natürlich. Sie merken: Da, wo das Böse ist, tut man immer nicht genug. Wir bleiben immer hinter dem zurück, was wir eigentlich tun müssten. Auf der anderen Seite gibt es sehr viele Bemühungen im Bereich der Jugendarbeit, im Bereich des Religionsunterrichtes, hier für Werterziehung Sorge zu tragen. Und wir sind eben einer der Bausteine in dieser Gesellschaft, die das versuchen. Ich glaube, dass wir, gerade weil wir es versuchen, auch einfühlen können, was es bedeutet, wenn dann in einer solchen Stadt sich plötzlich so etwas ereignet. Das empfinden alle, die drum herum sind, als ein Scheitern ihrer bisherigen Bemühungen. Es ist für mich aber noch etwas Tieferes, was dahintersteckt. Es ist ja so etwas auch wie die "Fratze des Bösen". Die hat nicht mit anderen was zu tun, sondern sie ist ein Bestandteil unseres Menschseins, das ist ein Teil unseres Menschseins. Und ich glaube, dass wir damit umzugehen haben, mit dieser Hiobfrage: Wo kommt das eigentlich her, was ist eigentlich die Ursache? Da gibt es keine Erklärung, die in irgendein Gottesbild hineinprojiziert wird. Da gibt es nur die Erkenntnis, dass der Mensch, wie die Heilige Schrift sagt, böse ist von Jugend auf. Und insofern ist das, was sich dort in Erfurt ereignete, nach meiner Meinung ein Abbild dessen, was menschlich stattfindet. Wir haben das in aller Welt, wir erleben die Gewalt in aller Welt. Die Medien bringen sie uns sehr, sehr nahe auf den Hals, und wir müssen mit der Existenz des Bösen dieser Welt reden, leben und wissen und fragen, woher kommt dann unter dieser Voraussetzung Hoffnung?

Birke: "Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten". Wer sät die Gewalt?

Kock: Das ist der Mensch insgesamt, und das sind dann immer wieder die einzelnen Menschen, das ist das, was an Egoismus, was an Selbstsucht in uns drinsteckt, an Machtbesessenheit, an dem Gefühl, die eigene Ohnmacht durch irgendeinen Akt spektakulär zu überwinden. Es ist ein Stück unseres Menschseins.

Birke: Präses Kock, noch mal zurück jetzt zur Situation an den Schulen, insbesondere auch jetzt Erfurt noch einmal. Wir haben amerikanische Zustände mit Eskalation der Gewalt eines Amokläufers, der - inklusive sich selbst - 17 Menschen umgebracht hat. Werden wir jetzt auch eine Eskalation der Sicherheitsvorkehrungen haben, das heißt, Metalldetektoren und ähnliches vor Schulen stellen müssen?

Kock: Ich fand die Reaktion der Politiker in den letzten Tagen ganz besonnen. Die haben gesagt, es darf nicht eine Schule zu einer Festung werden. Das ist ein gutes Zitat. Ich glaube, wir müssen wissen, dass bei aller Unsicherheit, die das Leben mit sich bringt und die die Existenz des Bösen auf uns heraufbeschwört, vollkommene Sicherheit nicht möglich ist – und schon gar keine da durch Stacheldraht und durch Detektoren. Wie will man das machen, das hat keinen Sinn, das wird doch überschritten. Hier haben wir gesehen, dass jemand sogar legal eine Pistole besitzt. Da kann man allenfalls überlegen, ist das richtig? Wird hier mit den Waffen zu sehr gehandelt? Erst hat man gesagt, das Illegale müssen wir beseitigen. Jetzt stellt man fest, das ist ganz legal. Also, da wird ja auch Geld dran verdient an Waffen usw., und da muss man aufpassen, dass das nicht in falsche Hände gerät. An der Stelle, meine ich, muss die Politik etwas machen.

Birke: Da würden Sie also für schärfere Gesetze plädieren, denn ironischerweise ist ja dieser Amoklauf gerade dann passiert, als der Bundestag zum Teil die Waffengesetze ja verschärft hatte?

Kock: Ja, ob er durch seine Verschärfung dieses jetzt verhindert hätte, weiß ich gar nicht. Man lernt ja jetzt durch dieses Ereignis, dass man vielleicht doch noch genauer hingucken muss. Also, an dieser Stelle muss der Staat was machen. Er soll aber nicht die Schulen in Festungen verwandeln, das halte ich für eine Katastrophe. Es würde eigentlich dem widerstehen, denn die Menschen in einer Gesellschaft frei umgehen lernen und nicht hinter Panzerglas existieren.

Birke: Lassen Sie mich da noch mal nachhaken. Also, da muss der Staat was machen. Soll der nun den Waffenschein - die Bestimmungen für den Waffenschein - verschärfen, denn das war ja nun ein Fall, wo der Täter im Besitz eines legalen Waffenbesitzscheines war, oder müssen wir vor allen Dingen auch dafür sorgen, dass generell nicht so viel Waffen im Umlauf sind - legaler und illegaler weise?

Kock: Beides. Ich glaube, das eine, dass viel Waffen in Umlauf sind, muss verändert werden. Da muss die Waffenindustrie selbst auch eingeschränkt werden, trotz allen Geschreis, das sie dann machen. Aber es muss auch kontrollier werden, wer diese Waffen hat. Und wenn denn Sportvereine mit Pistolen arbeiten und Sport treiben, wie man sagt, dann meine ich, muss das eben unter der Kontrolle und Verantwortung dieses Vereins stattfinden und darf nicht individualisiert ständig mit nach Hause getragen werden. Das ist ja der Punkt. Und wir haben ja auch Beispiele, wo Eltern ganz legal Waffen besitzen und wo Kinder doch an sie herankommen, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen. All das darf nicht sein, da muss aufgepasst werden. Nur sage ich noch mal: Das wird die Sicherheit nicht insgesamt absolut machen, sondern es wird vielleicht relativ sich bessern.

Birke: Die Amerikaner haben teilweise an einigen Schulen nach den Amokläufen System eingeführt und einen Slogan ausgegeben: Schweigen bringt Schmerz. Das heißt, sie haben die Mitschüler von potentiellen und tatsächlichen Amokläufern einfach aufgefordert, mehr Informationen weiterzugeben, denn es hat sich wohl auf Nachfragen und Recherche der Polizei und der Behörden ergeben, dass in 75 Prozent der Amokläufe Mitschüler zumindest Anzeichen einer Gefahr erkannt hatten. Wäre das etwas, was man auch bei uns jetzt umsetzen sollte, dieses Bewusstsein schaffen bei den Mitschülern, bei den Lehrern, in der Gesellschaft überhaupt, dass nicht jeder sich nur als Individuum sieht, sondern die Mitmenschen im Blick hat?

Kock: Ich glaube, da ist in vielen Schulen etwas Gutes auf dem Weg. Es gibt so etwas wie Anti-Gewalt-Trainings, Meditation, Schüler und Schülerinnen selbst werden eingeübt im Umgang mit der alltäglichen Gewalt. Sie versuchen damit, gegenzusteuern gegen das, was sich auf Schulhöfen und in Schwimmbädern usw. sich hin und wieder ereignet. Und wir haben in unseren evangelischen Schulen eben im Rahmen eines Projektes ‚Dekade gegen die Gewalt‘ solche Projekte erarbeitet mit Kindern, die hoch interessiert sind. Ich habe das selbst erlebt, ich habe die Schulen besucht und habe mit den Gruppen gesprochen, die an dieser Stelle dran sind. Das ist es, glaube ich, was passieren muss - wirklich eine Selbstfähigkeit von Kindern, anders umzugehen, als nur mit dem Kennzeichen der Angst, wenn Gewalt eintritt; also im Vorfeld etwas zur Befriedung beizutragen - nicht zur Konfliktvertuschung; Konflikte gibt es in jeder Gesellschaft, auch in der Schule, aber gegen diese unsinnigen Versuche, solche Konflikte mit Gewalt auszutragen. Und damit ist es eine Gegenbewegung gegen das, was in der Gesellschaft insgesamt ja eigentlich viel besser gelernt werden müsste und wo unsere große Politik uns sehr wenig Anhaltspunkte dafür gibt. Es gibt immer wieder die Vision, man könnte mit Hilfe von Gewalt wirklich Konflikte am Ende lösen. Und das ist der große Irrtum.

Birke: Haben hier nicht auch die Schulen oder hat hier nicht das Bildungssystem insofern versagt, dass es nicht genug Schulpsychologen gibt? Ich kenne aus anderen Ländern, in denen ich gelebt habe, das Phänomen, dass jede Schule einen Schulpsychologen haben muss. Das ist mir von Deutschland nicht bekannt.

Kock: Also, ich weiß nicht, ob man mit vielen Psychologen das macht, die an jeder Schule sind, ob nicht es auch wichtig wäre, in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer und in der Fortbildung dieses Dinge noch deutlicher zu behandeln. Wenn ich jetzt sage, das findet alles nicht statt, dann würde ich etwas Falsches sagen und würde ja auch den Kultusbehörden ja Unrecht tun, denn die haben solche Projekte schon durchaus im Blick und machen sie. Aber wie solche Beispiele zeigen: Verstärken kann nicht schaden.

Birke: Was kann man tun, um jetzt das Leiden, den Schock der Opfer, den Hinterbliebenen zu lindern?

Kock: Das erste ist schon geschehen, nämlich Rituale anzubieten, die da, wo die Sprachlosigkeit ist, etwas zum Ausdruck bringen können - also das Niederlegen von Blumen, das Anzünden von Kerzen, das Angebot von Gottesdiensten; eine Sprache anzubieten, die man nicht selber erfinden muss, sondern die in den Leiderfahrungen der Heiligen Schriften auch widergespiegelt sind. Das sind, glaube ich, wichtige Dinge für die erste Zeit. Dann gibt es, glaube ich, für die Menschen, die jetzt von diesem Leid betroffen sind als Angehörige, als Mitschülerinnen und als Kolleginnen und Kollegen die wichtige Möglichkeit, ihnen auch Zeichen der Solidarität zu geben. Ich halte das für wichtig, dass sie auch zur Sprache kommen. Sie haben, glaube ich, angesetzt in Erfurt auch ein System von Seelsorge und Beratung, um dann auch zur Sprache zu finden. Die Zeit der unmittelbaren Bemühungen ist schnell vorbei, aber das Leid zu verkraften und damit fertig zu werden, dauert wahnsinnig lange. Und die Menschen brauchen die Solidarität ihrer Nachbarn und Nachbarinnen. Und ich glaube, das ist im übrigen der Umgang mit dem Leid überall. Das individuelle Leid passiert ja auch nebenan bei uns im Haus, und die Frau, die gerade ihr Kind verloren hat durch einen Verkehrsunfall, die hat dieses als das größte Leid, und objektiv für die Betrachter von außen sind natürlich 17 Tote viel schlimmer, aber der einzelne Mensch, der so etwas verliert, der ist eigentlich der, der mit dem zu kämpfen hat. Und da sind Trostzeichen nicht billige Worte, oft nur Händedruck oder ein Zeichen "Ich denke an Dich, ich bete für Dich" - das sind meines Erachtens wichtige Zeichen, um überhaupt damit fertig zu werden.

Birke: In der Tat ist es ja vielleicht ein bisschen makaber, wenn man eben die Dimension immer nur an der Zahl der Toten misst, die Dimensionen des Leids. Blicken wir einmal auf andere Szenarien der Gewalt, die sich gerade ja als sehr eindrucksvoll und traurig im Nahen Osten abspielen. Wie sollen wir uns da mit unserer Solidarität verhalten? Wer sät dort die Gewalt, und wer erntet dort die Gewalt? Frage noch mal: Deutsche werden kritisiert dafür, dass sie auch die Politik Israels kritisieren. Wie sollen oder wie können Deutsche sich - auch gerade mit Blick auf ihre jüdischen und muslimischen Mitbürger – verhalten?

Kock: Also ich glaube, dass es für die Kritik an der Gewaltspirale im Nahen Osten ein paar Kriterien gibt, die man beachten muss, wenn man denn kritisiert. Das eine ist, man muss wissen, dass Gewalt eben in einer Spirale verläuft von Gewalt und Gegengewalt und dann ein Stadium erreicht hat, wo niemand mehr ganz genau weiß, wer eigentlich angefangen hat. Und in einer solchen Situation ist es nötig, dass beide Seiten kritisiert werden, denn jede Seite muss das ihre dazu tun, um aus der Gewaltspirale wieder herauszukommen. Das Zweite ist: Ich glaube, man muss sich hüten davor, unangemessen Vergleichsbegriffe zu verwenden. Wer Israel kritisiert mit dem Begriff ‚Vernichtungskrieg‘, assoziiert und projiziert etwas, was in unserer eigenen Geschichte hinein, was unangemessen ist, was kränkt und was auch antisemitische Ressentiments in unserem Land weckt. Die Kritik selbst ist nicht das Antisemitische, sondern die Art und Weise, wie sie geübt wird und was mit ihr erweckt wird. Und das Dritte, was mit der Kritik zusammenhängt, ist: Es muss auch Zeichen der Solidarität geben. Ich muss den Menschen in Israel, die ich kenne, zu verstehen geben, dass ich mich einfühle, in was passiert, wenn Du in ein Cafe gehst und es explodiert eine Bombe, dass Du Angst hast, in eine Straßenbahn zu steigen. Das muss man vermitteln. Und umgekehrt: Ich muss den Lehrern und Lehrerinnen an der Schule palästinensischen Christen ein Angebot für junge Generationen machen. Denen muss ich signalisieren: Ich weiß, dass Ihr nicht auf den Terror aus seid, sondern Ihr seid selber friedensliebend. Und ich muss mit dazu beitragen, dass Ihr geschützt werdet in Eurer schulischen Arbeit. Also, diese beiden Dinge müssen miteinander in Beziehung stehen.

Birke: Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, hat gestern davor gewarnt, die Stimmung könnte kippen wieder hin in Richtung Antisemitismus – wegen der Kritik an Israel. Teilen Sie diese Angst?

Kock: Also, ich weiß, dass er diese Befürchtung hat. Ich glaube, dass die Kritik an Israel selbst dieses Umkippen nicht herbeiführt, sondern dass die Art und Weise, wie sie vorgetragen wird – und da muss man eben Menschen mit politischem Einfluss mahnen, dass sie nicht mit verbalen Verirrungen etwas provozieren, was in dem Land hier Beschwernis hervorruft. Wir wissen ja inzwischen, dass auch jüdische Einrichtungen seit Jahren unter dem Druck stehen und beschützt werden müssen von der Polizei. Das ist kein guter Zustand. Wir müssen aus dieser Spirale wieder herauskommen. Aber man muss in dieser Gesellschaft sagen: Eine Kritik an einer israelischen gegenwärtigen Scharon-Regierung ist nicht eine Kritik gegenüber Juden. Und das muss man den Deutschen sagen, die solche Ressentiments haben, und denen muss man damit begegnen. Und man muss es auch den Juden sagen, damit sie nicht jedes Wort, das gesagt wird, in diese Richtung interpretieren.

Birke: Ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch, Präses Kock.


Quelle: Deutschlandfunk