„Was ist Wahrheit?“ - Ein Besuch im Flüchtlingslager Jenin

Ein weiterer persönlicher Bericht aus Jerusalem

02. Mai 2002


„Was ist Wahrheit?“ Diese alles entscheidende Frage stellte Pilatus an Jesus in der Schilderung des Prozesses Jesu, wie sie das Johannesevangelium überliefert. Doch schon die Exegese dieses „Berichtes“ ergibt, dass Wahrheit und Wirklichkeit oft nicht übereinstimmen. Eben darin besteht die Schwierigkeit einen „Bericht“ über einen Besuch im Flüchtlingslager in Jenin zu schreiben, denn das, was man sieht, wird von den Konfliktparteien unterschiedlich interpretiert. Israelis und Palästinenser haben jeweils ihre eigene Wahrheit zur vorfindlichen Wirklichkeit, was die Berichterstattung extrem erschwert. Deshalb ist dieser „Bericht“ über Jenin im Unterschied zu sonstiger journalistischer Gepflogenheit nicht in der neutralen dritten Person verfasst, was ihm einen Anschein von Objektivität gäbe, sondern bewusst in der ersten Person des Subjektes, das seine Beobachtungen weitergibt.

Der erste Eindruck, dessen man sich, wenn man das Flüchtlingslager Jenin betritt, nicht erwehren kann, ist der eines Erdbebens. Und das hat auch seinen Grund. Nach Aussagen der Bewohner des Camps wurden große Teile der sichtbaren Zerstörung nicht durch die Kampfhandlungen verursacht, sondern durch absichtsvolles Planieren im Anschluss. Immer wieder ist der Vorwurf zu hören, dass sich in den Häusern noch Menschen befunden hätten, als sie von den riesigen Militärbulldozern eingerissen wurden. Mehrmals bekommen wir die Geschichte eines 37 jährigen behinderten Mannes erzählt, der beim Abriss seines Hauses ums Leben kam, weil er nicht fliehen konnte. Seine weinende Schwester  präsentiert einen zerbeulten Rollstuhl, einen Schuh und einen Ausweis, alles was von ihrem Bruder übrig blieb. Vielleicht ist er noch unter dem Haus verschüttet, wer weiß das schon, schlimm genug aber, dass so etwas hier prinzipiell möglich ist. In der benachbarten Ruine rupft ein Junge eine Taube, sie gleicht der Friedensskulptur am Ortseingang von Jenin, ob er sich wohl der Symbolik seiner Handlung bewusst ist?

Menschen sitzen resigniert in den Ruinen ihrer Häuser oder suchen verzweifelt in den Überresten nach ihren Habseligkeiten. Ein Mann sortiert in der Ruine seines Hauses Kleidungsstücke, die er mit den Händen und einer Hacke aus dem Schutt zieht. Als eine Gruppe von Beobachtern vorbeiläuft, findet er gerade seinen jordanischen Pass im Geröll. Kleine bescheidene Wohnzimmer stehen zur Strasse hin offen, anrührend in ihrer Gemütlichkeit und doch auch wieder abstoßend, denn in ihnen und an vielen Wänden finden sich Bilder von Shahids, der „Märtyrer“, die sich im Kampf gegen den israelischen Feind zumeist selbst in die Luft gesprengt haben. Sie sind mit einem Schnellfeuergewehr in der einen und einem Koran in der anderen Hand abgebildet, den Hintergrund bildet meistens der Felsendom oder die Al Aksa Moschee in Jerusalem und das ganze Machwerk ist mit arabischen Versen, zumeist aus dem Koran, verziert, die die Taten der Shahids preisen.

Haben diese Plakate dazu beigetragen, die Wut der Soldaten Israels zu steigern, als sie in das Camp einmarschierten, mit viel zu schwerem, für den Häuserkampf nicht geeignetem Gerät? Oder andersherum: wie nehmen Palästinenser Israelis wahr, wenn sie Zivilisten durch Bombenterror ermorden, oder solches gutheißen? Die Wahrnehmung scheint diese zu sein: der andere ist der Feind und wenn dieser auf Zivilisten losgeht, legitimiert dies ein ähnliches Verhalten.

Israel negiert dies und besteht darauf die Zivilisten im Camp bewusst geschont zu haben: sie wurden mehrmals aufgefordert das Lager zu verlassen und man habe sich in den risikoreichen Häuserkampf begeben, um sie zu schonen. Uns aber werden zerstörte Viertel gezeigt, in die zahllose Raketen, abgefeuert von Apache-Hubschraubern, eingeschlagen haben. „Was ist Wahrheit?“

Die israelische Armee ist abgezogen, die Geschäfte sind geöffnet und die Menschen auf den Straßen. Doch Jenin ist keine reiche Stadt, sondern auf den Austausch von Gütern und Arbeitskraft mit Israel angewiesen. Jetzt, da die Stadt immer noch militärisch abgeriegelt ist, und die Werte vieler Familien zerstört wurden, gehen vielen Menschen die Mittel aus, sich selbst zu ernähren. Ein Hilfskonvoi der christlichen Kirchen bringt Nahrungsmittelpakete zur palästinensischen Patient Friends Society. Der Konvoi wird vom lateinischen Patriarchen Michael Sabach begleitet. Nach seiner Meinung befragt antwortet er: „Die Israelis haben uns die Fähigkeit zur Friedfertigkeit genommen.“ Wie ist dieser Satz angesichts der Ruinen zu verstehen und wer kann diese Fähigkeit wieder zurückgeben? Der Eindruck entsteht, dass die beiden streitenden Parteien dazu alleine nicht mehr in der Lage sind.

Ein Mitglied des PLC (Palestinian Legislative Council) nennt den Leuten vom Hilfskonvoi folgende Zahlen: bis zu 200 Häuser wurden komplett zerstört, ungefähr 100 fast komplett und 500 teilweise. 1300 Menschen wurden obdachlos, 100 werden noch vermisst, sei es, dass sie geflohen sind, sei es, dass sie noch unter dem Schutt vermutet werden.
„Das Schlimme“, so schließt er, „ist, dass die Israelis nicht nur unser Land genommen haben, sondern das Lachen unserer Kinder.“ Einige Kinder stehen daneben und erheben die Hand zum Siegeszeichen; Jungen lassen sich gerne mit selbstgebauten Gewehren photographieren und rufen „Katjuscha“, das sind Raketen mit 40 Kilometern Reichweite, mit denen die Hisbollah vom Libanon aus israelische Stellungen beschießt.

Ein Mann, der sich als Psychologe vorstellt, ergänzt: „Nicht der physische, sondern der seelische Schaden, der Horror, den jede Familie hier in den vergangenen 10 Tagen durchmachen musste, ist das eigentliche Problem.“ Auf die Rückfrage, ob das besonders die Kinder betreffe zeigt er auf das Gelände und meint nur: „es betrifft alle Menschen hier.“
Terror für die einen und Horror für die anderen: „Was ist Wahrheit?“ Das ist der Stoff, aus dem Mythen entstehen. Mythen, die das Selbstverständnis und die Zukunft zweier Völker prägen werden, für die die Mondlandschaft des Flüchtlingslagers Jenin zu einem Symbol des Sieges über den jeweils anderen geworden ist. Wie soll es weitergehen in diesem Konflikt, und vor allem mit den Menschen auf beiden Seiten? Hoffentlich nicht, wie im Prozess Jesu: denn schon damals wurde ein Unschuldiger ermordet und der Mörder, nachdem er scheinheilig nach der Wahrheit gefragt hatte, wusch seine Hände in Unschuld.

Rüdiger Scholz
Pfarrer des Evangelischen
Pilger- und Begegnungszentrums
auf dem Ölberg in Jerusalem