Flächendeckende Zerstörung oder: Hilfskonvoi in eine Geisterstadt

Persönlicher Bericht aus Jerusalem

26. April 2002


Eigentlich hätte an diesem Tag erheblicher Gegenverkehr auf der Fahrt nach Nablus herrschen müssen, denn das israelische Militär hatte angekündigt, sich aus Nablus zurückzuziehen. Doch die Fahrt des Hilfskonvois des „Joint Emergency Relief of the Christian Organizations“ glich einer Geisterfahrt durch ein Niemandsland.

Zu diesem Hilfskonvoi hatten sich erstmals die sechs christlichen Hilfsorganisationen Caritas International, Catholic Relief Service, Lutherischer Weltbund, Mennonite International Comitee, Pontifical Mission und World Vision zusammengeschlossen. Auch hatten sich dem Konvoi Fahrzeuge des International Orthodox Charity Comitee angeschlossen, so dass von einer wirklich ökumenischen Hilfsmaßnahme gesprochen werden kann.

Der erste Teil der Fahrt von Jerusalem aus verlief problemlos über die gut ausgebaute Straße Nummer 60, die zur Benutzung durch jüdische Siedler freigegeben ist. Links und rechts der Straße wechselten sich menschenleere arabische Dörfer und mit Stacheldraht eingeigelte israelische Siedlungen ab, jedoch fand sich außer des Konvois kein einziger Wagen auf der sehr gut ausgebauten Straße.

Nach der Tapuach Kreuzung änderte sich das jedoch dramatisch. Ein halb umgefahrenes Schild erinnerte auf hebräisch daran, dass nun das palästinensische Autonomiegebiet beginnt, in das Israelis nicht einreisen sollen. Für die Armee hat dieses Schild keine Bedeutung, denn unmittelbar daneben wurde eine große Panzerkaserne eingerichtet. Am Checkpoint musste der Hilfskonvoi drei Stunden warten, bis alle Papiere und Fahrzeuge überprüft waren, obwohl der Konvoi angemeldet war.

Danach ging es über eine durch Panzer und riesige Bulldozer zerstörte Hauptstraße, die eher den Namen Schlammpiste verdient, weiter in die Vororte von Nablus. Als der Konvoi wegen einer Reifenpanne anhalten muss kommen Leute aus den Häusern des Vorortes, der schon seit vier Monaten unter Ausgangssperre steht. Die Situation ist kritisch, da unkontrollierbar, es gilt die Anweisung in den Fahrzeugen zu bleiben und keinen Kontakt aufzunehmen, da niemand weiß, wie sich eine Menschenansammlung entwickeln kann. Als ein israelischer Militärjeep naht, verschwinden die Menschen blitzschnell in der Deckung. Nach kurzer Weiterfahrt durch verwüstete und zerstörte Straßenzüge erreicht der Konvoi ein Warenlager der Flüchtlingshilfsorganisation UNWRA, von dem aus das Flüchtlingslager Balata versorgt wird.

Kaum hat der Konvoi das umfriedete Gelände erreicht und mit dem Entladen der Nahrungsmittelpakete begonnen, da fallen von der gegenüberliegenden Panzerstellung Schüsse und ein kurzes Gefecht mit Maschinengewehren folgt, wobei nicht klar ist, wer hier wessen Feuer erwidert, oder ob nur einseitig geschossen wird. Doch dieser Vorgang zeigt wie trügerisch und brüchig die vermeintliche Ruhe ist.

Nach der beschleunigten Entladung der Lastwagen folgt nun eine Fahrt durch eine Geisterstadt, die Opfer systematischer Verwüstung wurde. Kaum ein Haus ist unversehrt. Es ist gespenstisch mit einem Konvoi von 20 Wagen durch eine menschenleere Stadt zu fahren, in der über 150.000 Menschen leben, davon 24.000 in der extrem dicht besiedelten Altstadt, die Spuren schwerster Zerstörung aufweist. Weder Menschen noch Autos sind zu sehen, dafür viele Autowracks, die von Panzern überrollt wurden. Die Gebäude der palästinensischen Autorität sind fast ausnahmslos ausgebrannt und weisen in der Fassade die großen Einschusslöcher, die durch Raketenbeschuss entstehen, auf. Die Metalltüren der Geschäfte wurden aufgebrochen, die Geschäfte selbst sind vandalisiert, ausgebrannt oder geplündert. Die Strassen entweder durch die schweren Kettenfahrzeuge der Armee zerstört, oder mit Bulldozern systematisch aufgerissen.

Wertvolles Wasser rinnt sinnlos aus demolierten Wasserleitungen unter den Rädern des Sattelschleppers, der Trinkwasser in die Stadt bringt, deren Infrastruktur größtenteils zerstört wurde. Eine Presseerklärung der Stadtverwaltung Nablus nennt folgende Zahlen: 70% der Wasserversorgung sind zusammengebrochen, ebenso sehr ist das Abwassersystem in Mitleidenschaft gezogen. In den wenigen Stunden, in denen die Ausgangssperre aufgehoben wurde, haben die Menschen die sich ansammelnden Müllberge angezündet, um Seuchen zu vermeiden. 550 Müllcontainer wurden total zerstört, ebenso 25 Fahrzeuge der Stadtverwaltung.

Wie viele Tote noch unter den Trümmern liegen ist nicht klar, die Stadtverwaltung geht aber von mindestens 71 Toten aus, sowie 215 Verletzten, darunter 15 Kinder und 19 Frauen. 80% des Niedervolt und 50% des Hochvoltnetzes wurde zerstört, 200 Elektromasten wurden mitsamt  Leitungen umgelegt, so dass weite Teile der Stadt ohne Strom sind. Das Telefonnetz ist weitgehend zusammengebrochen, auch viele Mobiltelefone funktionieren nicht mehr, entweder weil die Sendemasten zerstört wurden, oder weil keine Möglichkeit zum Aufladen des Akkus besteht.

Bedenkt man, dass Nablus eine historische, bereits im Jahre 71 n. Chr. gegründete Stadt ist, so gewinnt das Ausmaß der Zerstörung noch eine weitere Dimension: Nach Angaben der Stadtverwaltung wurde die älteste Moschee der Stadt zu 85% zerstört, ebenso die 400 Jahre alte römisch katholische Kirche zu 40%. Ein Priester konnte diese Angaben bestätigen. Das 400 Jahre alte türkische Bad wurde von drei Raketen getroffen und 5 der traditionsreichen Nabluser Seifenfabriken zerstört. Doch was viel bedenklicher stimmt als diese bloßen Zahlen ist der Schaden, der an zivilen Einrichtungen, an Wohnhäusern, Privatwagen, Geschäften etc. angerichtet wurde. Was wird sein, wenn diese Saat der Gewalt aufgeht?

Die Fahrt durch eine systematisch, planmäßig und flächendeckend zerstörte und vandalisierte Geisterstadt weckt bei einem Mitfahrer die Erinnerung an einen Bosnienhilfskonvoi, an dem er teilnahm. Ab und zu rennen Jugendliche geduckt durch die engen Gassen und ihre Furcht scheint nicht unbegründet, als plötzlich aus einer Seitenstrasse zwei große Merkava Panzer vor den Konvoi fahren und die Weiterfahrt verhindern. Nach zähen Verhandlungen wird die Weiterfahrt zur katholischen Kirche der Rosary Sisters genehmigt, die nahe einer Straßensperre des Militärs liegt. Als sich während der Entladung der Hilfsgüter Menschen an den Fenstern sammeln, kommen drei APC (Armoured Personal Carrier) angerast und die Soldaten legen ihre Maschinengewehre auf die Schaulustigen an, die sofort wieder in der Tiefe ihrer Wohnungen verschwinden.

Ein Reuters Fernsehteam kommt in einem gepanzerten Fahrzeug an und Reporter in schusssicheren Westen und mit Stahlhelmen halten das Geschehen fest. Sie sind nicht umsonst so ausgestattet, denn beim nächsten Stopp des Hilfskonvois, als Medikamente im Rafidia Krankenhaus abgeladen  werden, sind ganz in der Nähe Maschinengewehrsalven zu hören. Anwohner berichten aber, dass dies keineswegs Kampfhandlungen sein müssen, sondern dass die Armee, besonders morgens und abends schießend durch die Straßen fährt, um die Menschen einzuschüchtern und die Ausgangssperre aufrechtzuerhalten.

Es folgt eine Rückfahrt durch eine leblose Geisterstadt, vorbei an Ruinen der Hoffnung. Am Checkpoint vor Nablus dauert die Abfertigung wieder sehr lange, denn ein Wagen, in dem Jerusalemer Palästinenser sitzen, soll nicht durchgelassen werden. Als es dunkel wird spitzt sich die Lage zu, denn Nachtfahrten sind gefährlich und entgegen den offiziellen Angaben der Armee über einen Rückzug fahren wieder Panzer nach Nablus hinein. Nach drei Stunden zäher Verhandlungen darf der Konvoi passieren. Nach 14 Stunden trifft der Konvoi wieder in Jerusalem ein. Das rege Treiben auf den Straßen und der dichte Verkehr muten an wie aus einer anderen Welt. Aber alle Teilnehmer des Konvois wissen, dass Nablus nur eine Andeutung dessen war, was sie bei der nächsten Hilfsfahrt erwartet. Die wird nach Jenin gehen.

Rüdiger Scholz
Pfarrer des Evangelischen
Pilger- und Begegnungszentrums
auf dem Ölberg in Jerusalem