Streitbarer Christ und eigenwilliger Politiker

Vor hundert Jahren wurde Heinrich Albertz geboren

22. Januar 2015

Heinrich Albertz

Frankfurt a.M. (epd). Unbequemer Mahner, streitbarer Christ, eigenwilliger Politiker - das sind einige der Zuschreibungen, die Heinrich Albertz (1915-1993) auf seinem Lebensweg erhielt. Der Berliner Bischof Markus Dröge hat den früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin zu dessen 100. Geburtstag gewürdigt. Albertz habe in herausragender Weise als "Pfarrer in der Politik und als politischer Pfarrer" in Kirche und Gesellschaft gewirkt, erklärte Dröge. Die Präsenz der Kirche und kirchlicher Themen in der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit sei eine Herzensangelegenheit von Albertz gewesen. In seiner politischen Karriere habe er immer auch als Christenmensch agiert und im Vertrauen auf seinen Glauben gehandelt.

Albertz' Biografie, die der Historiker Jacques Schuster 1997 vier Jahre nach Albertz' Tod vorlegte, trägt den Untertitel: "Der Mann, der mehrere Leben lebte". Für Schuster sind für den Mann, den er beschreibt, drei Charakterzüge kennzeichnend: Preuße, Protestant und Patriot. Das preußische Element war ihm in die Wiege gelegt: Geboren wurde Heinrich Albertz am 22. Januar 1915 in Breslau (heute Wroclaw) als Sohn eines königstreuen Hofpredigers. Er wuchs in einem frommen Elternhaus auf, in dem preußische Tugenden als selbstverständlich galten. Den Verlust der schlesischen Heimat empfand er noch im Alter als schmerzlich. "Wenn wir nicht diese irrsinnige Spaltung in Europa hätten, dann würde ich gerne - das ist ja aber faktisch einfach unmöglich - meine letzten Jahre in Breslau verbringen", sagte der 70-jährige Albertz in einem Interview mit Günter Gaus.

Für mehrere Monate eingesperrt

Unter dem Einfluss seines wesentlich älteren Bruders Martin wandte sich Heinrich Albertz während des Theologiestudiums der Bekennenden Kirche zu, die in Gegnerschaft zu den NS-Machthabern stand. Mehrfach geriet er mit den Nationalsozialisten in Konflikt. Nach einem Fürbittgottesdienst für den in Dachau inhaftierten Theologen Martin Niemöller wurde Albertz 1943 für mehrere Monate eingesperrt.

Die politische Biografie von Albertz begann in Niedersachsen. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs kümmerte er sich im Kirchenkreis Celle als Flüchtlingspastor um die sozialen Probleme der Vertriebenen. Im Jahr 1946 trat er der SPD bei, zwei Jahre später wurde er Flüchtlingsminister des Landes Niedersachsen, ab 1951 kam das Sozialressort hinzu. Von 1949 bis 1965 stand er zudem an der Spitze der Arbeiterwohlfahrt.

Im August 1955 folgte Albertz einem Ruf der Berliner SPD in die "Frontstadt". Zunächst wurde er Senatsdirektor beim Senator für Volksbildung. Trotz einiger Widerstände bei den Sozialdemokraten berief ihn Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt zum Chef der Staatskanzlei. Fortan gehörte Albertz mit Egon Bahr und Klaus Schütz zur "Heiligen Familie", in der Brandt mit seinen engsten Mitarbeitern vor allem nach dem Mauerbau über eine "Politik der kleinen Schritte" nachdachte, um trotz der deutschen Teilung menschliche Erleichterungen zu erreichen.

"Pastor in politischer Verantwortung"

Auch wenn Albertz die Bonner Republik und ihre Westorientierung wesentlich kritischer sah als Brandt, ergänzten sich die beiden unterschiedlichen Männer. An dem Theologen schätzte Brandt, so wurde kolportiert, dessen "inneres Geländer" aus christlicher Überzeugung und Ethik. 1961, im Jahr des Mauerbaus, wurde "Knecht Heinrich" ordnungsliebender Innensenator. Nach Brandts Wechsel als Außenminister nach Bonn stieg Albertz im Dezember 1966 zum Regierenden Bürgermeister von Berlin auf - er blieb es genau 285 Tage.

Für Albertz' Politikerleben wird der 2. Juni 1967 zum "Gerichtstag". Bei Demonstrationen gegen den Schah von Persien stirbt der Student Benno Ohnesorg durch eine Polizeikugel. Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Bischof Kurt Scharf, der danach das Gespräch mit dem "Pastor in politischer Verantwortung" suchte, bekannte Albertz im September im Abgeordnetenhaus, "objektiv das Falsche" getan zu haben. Er sei am schwächsten gewesen, sagte er, "als ich am härtesten war, in jener Nacht des 2. Juni". Wenige Tage später erklärte er seinen Rücktritt - zuvor hatte die SPD-Fraktion ihm den Rückhalt versagt.

Außerparlamentarisches Gewissen 

Der 52-Jährige kehrte wieder in den Kirchendienst zurück, zunächst als geistlicher Mentor in der Gropiusstadt, dann als Gemeindepfarrer in Berlin-Schlachtensee. Zudem wuchs dem Protestanten, den seine innerparteilichen Gegner als "Unperson" behandelten, eine neue Rolle als Vermittler und außerparlamentarisches Gewissen zu. Im Gefolge der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz begleitete Albertz 1975 als Geisel die freigepressten Terroristen auf dem Flug ins jemenitische Aden.

Seine schnörkellose, biblisch zugespitzte Sprache, seine Geradlinigkeit und sein Gottvertrauen trugen dem knorrigen Pastor, der sich für Hausbesetzer und Hungerstreikende einsetzte, vor allem bei jungen Leuten Sympathie ein. Für andere, vor allem Politiker, war er ein rotes Tuch. Warnte er doch auf Kirchentagen vor der Nato-Nachrüstung und warb für gewaltlosen Widerstand. Zu den Gesichtern der Friedensbewegung wurde Albertz als Redner auf der Kundgebung im Bonner Hofgarten vom Oktober 1981 und bei der Mutlangen-Blockade im "heißen Herbst" 1983.

Von Berlin nahm er endgültig im Jahr 1986 Abschied. Er lebte mit seiner Frau Ilse in einem Altenheim in Bremen, wo er am 18. Mai 1993 im Alter von 78 Jahren starb.

Rainer Clos (epd)