Weihnachten 1914 rufen Soldaten in Flandern spontan den "Weihnachtsfrieden" aus

Die seltsamsten Stunden des Krieges

24. Dezember 2014

Weihnachtsfrieden

Ypern/Mesen (epd). Vor 100 Jahren liegen sich Deutsche, Briten, Belgier und Franzosen in den flämischen Schützengräben gegenüber. Zerschossen und aufgewühlt ist die geschundene Landschaft, gefallene Soldaten liegen im feuchtkalten Morast der Minenfelder. Zu gefährlich ist es, sie aus den Stacheldrahtverhauen im Niemandsland zu bergen. Dann geschieht, was Zeugen aus dem Ersten Weltkrieg als ein Wunder beschreiben: Die Feinde rufen einen spontanen Waffenstillstand aus: Den legendären "Weihnachtsfrieden" 1914.

Längst ist die Westfront erstarrt, die sich knapp 800 Kilometer vom belgischen Nieuwpoort bis zur Schweizer Grenze schlängelt. Meist erfolglose Sturmangriffe demoralisieren die Truppen. Bis Weihnachten 1914 sind bereits 760.000 Menschen gestorben.

Der Kampfeswille erreicht den Tiefpunkt. Verflogen ist die Hoffnung auf einen kurzen Waffengang. Der geplante Durchmarsch der Deutschen nach Paris wird gestoppt, nach dem Rückzug kommt die Front in Belgien und Nordfrankreich zum Stehen. Die Soldaten graben sich in Hörweite ein. Kniehoch stehen die Kämpfer im Schlamm. "Das Leben hier ist einfach beschissen", schreibt ein deutscher Leutnant nach Hause: "Hier ertönt kein Lied, kein fröhlicher Gesang. Alles müde. Unsere schöne Begeisterung, wo ist sie geblieben?"

Sorgen um die Moral der Truppe macht sich auch die deutsche Oberste Heeresleitung. Um die Stimmung an den Festtagen zu heben, lässt die Generalität Tausende, knapp einen Meter hohe Tannenbäume in die Schützengräben bringen - mit hölzernem Ständer und mit Kerzen an den Zweigen. Doch diese Gabe entfaltet unvermutet eine subversive Kraft.

Am Abend des 24. Dezember klart der Himmel an der Front in Flandern rund um Ypern auf. Frost senkt sich auf die Landschaft, die Sicht auf den Feind ist gut. Doch statt zu schießen, stellen Deutschen ihre Tannenbäumchen auf die Wälle der Schützengräben und entzünden die Kerzen. Nur noch vereinzelt fallen Schüsse: Eine unheimliche Stille breitet sich aus. Dann erklingen Weihnachtslieder: "Stille Nacht, heilige Nacht", tönt der vielstimmige Chorgesang aus den Gräben - und wird von gegenüber mit eigenen Liedern beantwortet.

"Kaum fing es an, Tag zu werden, erschienen schon die Engländer und winkten uns zu, was unsere Leute erwiderten", berichtet Josef Wenzl vom bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment 16, "allmählich gingen sie ganz heraus aus den Gräben". Und weiter: "Zwischen den Schützengräben stehen die verhassten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen."

"Einen solchen Frieden von unten gab es noch nie in der Geschichte eines Krieges", schreibt Buchautor Michael Jürgs. Er spricht von einer "natürlichen, gesunden Reaktion auf den Schrecken". Die Soldaten schafften sich Frieden und heilten sich dadurch vorübergehend selbst: "Laut singend, laut feiernd, solange es ihnen nicht verboten wird, denn nichts auf der Welt ist so still wie der Tod, und den kennen sie."

Die Männer rauchen, trinken, tauschen Souvenirs und begraben gemeinsam ihre toten Kameraden. Schnapsflaschen kreisen - ein spontaner Waffenstillstand zum Entsetzen der Generäle. Die Briten bieten den Deutschen etwas ganz Besonderes: Christmas Pudding, der traditionell in England am Ersten Weihnachtstag gegessen wird. "Nach dem ersten Bissen", schreibt der britische Gefreite Frederick W. Heath, "waren wir Freunde für immer."

Der Höhepunkt folgt am nächsten Tag nahe der Gemeinde Mesen. Leutnant Johannes Niemann ist Zeuge: "Plötzlich brachte ein Schotte einen Fußball heran, und es entwickelte sich ein regelrechtes Fußballspiel mit hingelegten Mützen als Toren. Alle Akteure und auch die Zuschauer waren erfüllt von friedlicher sportlicher Gemeinsamkeit."

Zwar kann heute niemand mehr genau sagen, wo die Waffenruhe ihren Anfang nahm und welche Truppenteile sich beteiligten. Doch aus Briefen, Tagebüchern und Zeitungsartikeln haben Forscher rekonstruiert, dass das Zentrum des "Weihnachtsfriedens" jener rund 45 Kilometer lange Frontabschnitt war, in dem sich Deutsche und Briten gegenüberstanden.

Dass diese Verbrüderungen überhaupt eine breite Öffentlichkeit erreichen, ist zunächst der britischen Presse zu verdanken. Die Zeitungen berichten mit Fotos auf ihren Titelseiten umfassend über die merkwürdigen Ereignisse. Ganz anders die Situation in Frankreich: Hier ist das Thema tabu.

Der Frieden von 1914 währte nicht lange: An den meisten Orten wurde am 26. Dezember wieder geschossen. An anderen Frontabschnitten dauerte die Feuerpause den Quellen zufolge bis ins neue Jahr hinein. Immerhin: Die Teilnehmer des Weihnachtsfriedens wurden nicht bestraft - wohl auch, weil zu viele Soldaten daran teilgenommen hatten.

In den folgenden Kriegsjahren unterblieben zu Weihnachten weitere Waffenruhen. Die Befehlshaber beider Seiten hatten für solche Fälle Kriegsgerichtsverfahren angedroht. Erich von Falkenhayn, Generalstabschef des deutschen Heeres, stellte ausdrücklich in einem Rundbefehl fest, "dass Fraternisieren Hochverrat ist". So bleibt der "kleine Frieden" von 1914 ein einmaliges Ereignis - von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen.

Auf die improvisierten Feiern folgte schnell wieder die unerbittliche Grausamkeit des Krieges. Menschen, die sich noch kurz zuvor herzlich umarmt und beschenkt hatten, wurden wieder Todfeinde. Dennoch entfalten diese Verbrüderungen eine bis heute gültige Symbolkraft: Wenn die Menschen es wollen, stoppen sie den Krieg - sofort.