Rettung vor dem Kriegstod oder Dach für Bürgerproteste

Kirchen wie der Magdeburger Dom haben als Schutzraum nicht an Kraft verloren

06. Oktober 2014

Magdeburger Dom

Geschätzt 4.500 Menschen waren an diesem Abend im Magdeburger Dom. Trotz einer übermächtigen Bedrohung durch doppelt so viele Sicherheitskräfte versammelten sie sich am 9. Oktober 1989 zum Montagsgebet. Es wurde wie in Leipzig Ausgangspunkt für die friedliche Revolution in der DDR. Die uralte Praxis, dass Kirchen für die Staatsgewalt tabu sind, ließ selbst das DDR-Regime von Maßnahmen absehen. Stasi-Spitzel freilich waren durchaus tätig, wie sich die damalige Dompredigerin Waltraut Zachhuber erinnert.

Auch den Atheisten unter den Teilnehmern der Montagsgebete sei wohl klar gewesen, dass ihnen in den Kirchen nichts passieren würde - und dass sie dort den Widerstand proben könnten, den sie sich auf der Straße noch nicht trauten. Offenbar waren die Kirchen in der DDR auch die letzte Institution, der die Menschen überhaupt noch vertrauten, vermutet die Theologin, die später evangelische Superintendentin von Magdeburg wurde.

Die Kirchen seien schon immer nicht nur Gebäude für Gottesdienste, sondern auch ein Raum gewesen, in dem Menschen Schutz und Hilfe suchten. Ähnliches sei auch in Kriegszeiten geschehen, wenn Kirchen zu Lazaretten wurden. Auch Obdachlose oder Hungernde hätten Kirchen immer wieder als Schutzräume erfahren.

Eine große Rolle spielt in der Gegenwart das Kirchenasyl für Ausländer, denen die Abschiebung droht. Insgesamt rund 200 Mal wurde eine solche Zufluchtsstätte von 2004 bis Ende 2013 neu gewährt, wie die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche auflistet. Manchmal leben die Flüchtlinge nur einige Wochen dort, andere aber über Jahre. Gleichwohl sind seit 2004 vier Fälle bekannt, bei denen Polizei und Ausländerbehörde das Asyl geräumt haben - zuletzt im März 2014 in Augsburg.

Vielleicht haben die Idee und der Anspruch heute, Kirchentüren besonders für Flüchtlinge und Opfer von Gewalt offen zu halten, auch Wurzeln in einem Schuldbewusstsein aus der Zeit des Nationalsozialismus, vermutet Zachhuber. Die Kirchen hätten bei den Novemberpogromen 1938 gegen Juden ihren Schutz anbieten und zum Protest aufrufen müssen, und wenn es nur durch Glockenläuten gewesen wäre.

Schon in der heidnischen Antike hätten Priester und Heiligtümer unter besonderen Schutz gestanden, sagt die Göttinger Historikerin und Buchautorin Gaby Kuper. In Deutschland wurden in der Romanik viele Kirchen und die sie umgebenden Mauern wie eine Burg befestigt. Zudem wurden im Mittelalter Kirchen vor allem in den Hansestädten als Warenlager genutzt. Offenbar, sagt Kuper, galten sie als der einzige sichere Ort dafür.

In vielen Städten habe die Praxis des Schutzes eigene Rechtsbezirke geschaffen, sagt Kuper, die bis 2014 viele Jahre in Sachsen-Anhalt unter anderem für das Kulturhistorische Museum in Magdeburg und die Stiftung Luthergedenkstätten tätig war. So seien in Magdeburg noch bis Mitte des 17. Jahrhunderts Grenzen einer Immunität des Domes und des Domplatzes festgeschrieben gewesen. Sie durften vom "städtischen Büttel" nicht ohne Erlaubnis übertreten werden.

Dass im Dreißigjährigen Krieg Domprediger Reinhard Bake seine Kirche für die Flüchtenden geöffnet hat, gehöre zum innersten Kern der christlichen Botschaft, betont Zachhuber. Schon in biblischen Geschichten aus dem alten Israel sei die Rede davon, wie sich Menschen in Tempel geflüchtet hätten und dazu aufgerufen wurde, Hilfsbedürftigen Schutz zu bieten. Dabei gehe es auch symbolisch um das "Dach der Kirche".

Truppen des kaiserlichen Feldherrn Tilly hatten im Mai 1631 Magdeburg dem Erdboden gleichgemacht, bis zu 20.000 Menschen wurden getötet. Rund 4.000 Menschen suchten Schutz im Dom. Als Tilly die Öffnung der Domtüren anordnete, soll Bake vor ihm auf die Knie gefallen sein und einen abgewandelten Vers des Dichters Vergil rezitiert haben. Die Flüchtlinge wurden verschont. (epd)