Macht der Glaube an einen Gott intolerant?

Burkhard Weitz widmet sich der Frage in der Broschüre zum Themenjahr

28. Dezember 2012

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Die Religion steht im Verdacht, Nährboden für Intoleranz zu sein. Im EKD-Magazin zum Themenjahr „Reformation und Toleranz“ der Lutherdekade geht der Journalist und Pfarrer Burkhard Weitz der Frage nach: Befördern Bibel und Koran die Gewalt im Namen Gottes?

Ja, sagt der Ägyptologe Jan Assmann. Mit dem Glauben an einen einzigen Gott sei etwas Neues in die Welt gekommen: die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion. Der Gründungsmythos monotheistischer Religionen sei stets eine Revolution, die einen Götterkult gewaltsam beseitige. Der Monotheismus mache Menschen intolerant und stachele Gläubige gegen Andersgläubige auf.

Der Prototyp des religiösen Gewalttäters heißt Pinhas, von ihm erzählt die Bibel (4. Mose 25). Pinhas, der Eiferer für den Herrn, beobachtet einen Israeliten mit einer andersgläubigen Midianiterin. Heimlich folgt er beiden mit seinem Spieß bis in ihre Kammer. Dann stößt er zu. Offenbar hatte sich das Paar gerade umarmt, denn der Spieß fährt durch beide hindurch.

Pinhas, ein religiöser Terrorist! Ein gnadenloser Fanatiker, der seine Abneigung gegen den Götzendienst über das Lebensrecht Einzelner stellt. Bis heute dient diese biblische Figur fundamentalistischen Eiferern etwa in den USA, die Homosexuelle hassen und Jagd auf Abtreibungsärzte machen, als Vorbild. Keine Frage: Wer gewaltbereit ist und Legitimation in der Bibel sucht, wird fündig.

Die Geschichtsbücher der Bibel sind voller Gewalt. Denn die Bibel erzählt realistisch von der anarchischen Frühzeit der Menschheit, in der das Recht nur mühsam durchzusetzen war. Sie erzählt, wie der Gott Israels verlangt, den Bann an Städten zu vollstrecken, während sein erwähltes Volk das Kanaan in Besitz nimmt. Im Klartext: Das eindringende Fremdvolk solle die angestammte Bevölkerung ganzer Städte ermorden. Die Bibel erzählt auch, wie der Prophet Elia eine ganze Riege von Baalspriestern tötet (1. Könige 18).

Allerdings sind diese Tötungsorgien vor dem 6. vorchristlichen Jahrhundert nicht dem Monotheismus geschuldet. Der setzte sich erst später durch – als die biblischen Schriftsteller und Bibelbearbeiter dem wahllosen Morden längst abgesagt hatten. Die Gewaltberichte früherer Chronisten wurden umgedeutet: Die Erzählungen von Gottesbann und Priestermord sollten nun nicht mehr das Töten legitimieren, sondern dienten als Parabel für das Volk, den Irrglauben hinter sich zu lassen.

Irgendwann zwischen dem 4. und 3. vorchristlichen Jahrhundert waren die meisten biblischen Schriften in ihrer heutigen Form fertig bearbeitet. Ihre Hauptthemen: gottgewollter Kult, gottlose Könige, mittellose Witwen und Waisen. Fast immer steht der Gott der Bibel auf der Seite der Gedemütigten und Unterdrückten.

Geschichtlich hat sich der Monotheismus erst zu einer Zeit durchgesetzt, als die Nationalkulte de facto am Ende waren: in Israel mit dem babylonischen Exil, in Griechenland mit der rationalistischen Philosophie, in Arabien mit der Vision einer weltumspannenden Gemeinschaft der Gläubigen (arabisch: Umma). Ein Grundgedanke von Bibel und Koran: Wer Unrecht tut, kehrt sich von Gott ab. Nicht bloß von einem Nationalgott sondern vom Schöpfer des Universums, der alle Menschen als Geschwister gleich erschaffen hat. Alle monotheistischen Traditionen entwerfen große Visionen vom Weltfrieden.

Und alle monotheistischen Glaubenstraditionen beanspruchen Universalität und absolute Gültigkeit für ihr Rechtsdenken – in ähnlicher Weise, wie heute die Vereinten Nationen die Menschenrechte heute für universell erklären. „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Die Zehn Gebote (2. Mose 20) beginnen mit einem Plädoyer für den Gott der Freiheit: eine zivilisatorische Errungenschaft, in der zugleich die Saat für neues Unheil liegt.

Die wohl radikalste Form des Gewaltverzichts verkörpert Jesus von Nazareth. Er tritt als Heiler auf, holt die verlorenen Kinder Israels zurück ins Gottesvolk und fordert Feindesliebe ein. Schließlich erleidet er Unrecht und physische Gewalt und stirbt den Foltertod. Das Neue Testam ent vergleicht diesen Christus (hebräisch: Messias) mit einem Opferlamm. Beide üben keine Gewalt aus, sie erdulden, ertragen (lateinisch: tollere) sie ohne Gegenwehr. In der Abendmahlsliturgie singen Christen seit zwei Jahrtausenden: „Agnus dei, qui tollis peccata mundi“: Lamm Gottes, der du trägst die Sünde der Welt.

Jesus Christus gilt Christen als „Weg,  Wahrheit und Leben“ und somit als einziger Weg zu Gott (Johannes 14,6). In der Nachfolge Christi nimmt der Christ das Martyrium auf sich und erduldet Gewalt. Zugleich grenzt die Christenheit unduldsam Fehldeuter des Glaubens aus ihrer Gemeinschaft aus. „Jesu Leiden war real“, hält sie denen entgegen, die Jesus zum schmerzlosen Gott verklären. „Sein Heilsweg ist absolut und universal“, sagt sie denen, die den Christus auf allzu menschliches Maß stutzen wollen. Auch hier liegt im Absolutheitsanspruch die Saat für neues Unheil begründet.

Von Anfang an bejahen Christen die Recht durchsetzende Gewalt des Staates – obwohl ihnen der Staat zunächst feindlich gesonnen ist. Im 4. Jahrhundert entsteht die Reichskirche, Christen stehen nun aufseiten der Staatsgewalt. Aber sie vernichten ihre Gegner eben nicht physisch. Das jesuanische Gleichnis vom Unkraut im Weizen steht hierfür Pate: Der Herr wird dermaleinst das „Unkraut“ vernichten, wenn er kommt, nicht schon seine Knechte (Matthäus 13,24ff).

Dem katholischen Kirchenhistoriker Arnold Angenendt zufolge sprach die christliche Häretikerbekämpfung während des ersten Jahrtausends nur in einem Verfahren Todesurteile aus: 385 n. Chr. ließ der Usurpator Maximus den Priscillian und einige Gefährten wegen Irrlehre in Trier hinrichten. Eine Todsünde auch damals! Die Bischöfe Martin von Tours und Ambrosius von Mailand kündigen den am Verfahren beteiligten Bischöfen daraufhin die Kirchengemeinschaft auf.

Das Papstwahldekret von 1059 löste die Wahl des Bischofs von Rom aus der Kontrolle von römischem Stadtadel und deutschem Kaiser. Die Papstkirche entstand. 1095 rief Papst Urban II zum Kreuzzug auf. Nun wendete sich das Blatt. Ritterheere zogen im Namen Christi mordend durch die Lande, Magistrate gaben dem christlichen Pöbel die jüdische Minderheit zum Pogrom frei, Kirchengerichte verurteilten Ketzer zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Die Papstkirche setzte ihr Wahrheitsmonopol gewaltsam durch – und erntete von Anfang an Widerspruch.

Das gesamte Mittelalter hindurch zweifeln Reformer wie Petrus Valdes, Franz von Assisi, John Wyclif, Jan Hus und Martin Luther die päpstliche und priesterlich-sakramentale Autorität an und fordern eine Rückbesinnung auf urchristliche Ideale, auch auf die Gewaltfreiheit: „Ketzer verbrennen ist wider den Heiligen Geist“, schrieb Luther 1521. Als von Reformatoren schließlich verlangt wird, selbst Verantwortung zu übernehmen, vergessen sie ihre anfänglichen Toleranzforderungen und fallen in die hoch- und spätmittelalterliche Unkultur der Ketzerbekämpfung zurück.

In der kollektiven Erinnerung der Deutschen steht die Urkatastrophe des Dreißigjährigen Krieges am Anfang der Neuzeit: Streit um die wahre Religion erzeugt maßlose Gewalt. Für USAmerikaner ist dagegen religiöse Vielfalt und Lebendigkeit konstitutiv für die Moderne. Ihre Demokratie wurzelt in den Gemeindeverfassungen der Dissenter (Abweichler), die im 17. Jahrhundert dem Druck der reformunwilligen englischen Staatskirche wichen, um in Neuengland eine tolerante, freie Gesellschaft im Geiste Jesu zu schaffen. In beiden Ländern fordern Christen (darunter auch die teils antikirchlichen Aufklärer) Toleranz, weil sie am unchristlichen Umgang unter Christen Anstoß nehmen.

Vom Propheten Mohammed bis in die späten 1970er Jahre erschien der Islam in der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit überwiegend als tolerante und friedfertige Religion, die zwar traditionell kein Recht auf Glaubenswechsel anerkennt, wohl aber weitgehende Freiheit für Andersgläubige.

Seit der iranischen Revolution von 1979 drängt sich das Bild vom kämpferischen intoleranten Islam in den Vordergrund. Seit Anfang der 1980er kämpfen die Hisbollah im Libanon, die radikalislamische Hamas in Palästina und Mudschaheddin in Afghanistan. Charismatische Dschihadisten wie Osama bin Laden, Spross einer saudischen Unternehmerfamilie, verengten die islamische Rechtsauffassung gegenüber Andersgläubigen und lenkten den Terror generell gegen den Westen und seine Werte. Sie verantworten die Anschläge vom 11. September und die Attentate in London und Madrid. Saat und Frucht dieses illusionären politischen Islams waren Terror, sonst nichts.

Der Monotheismus hat keine qualitativ neue Gewalt hervorgebracht. Wie jede andere Lehre und Ideologie ist auch er geeignet, Gewalt zu legitimieren. Christen, die ihrem Glauben nach eigentlich der Gewalt abschwören sollen, haben dies ebenso getan wie Menschen anderer Religionen und Ideologien. Aber mehr als andere leiden sie am Verrat an eigenen Idealen. Gerade deshalb hat das christliche Abendland als Lehre aus den Religionskriegen der Vergangenheit eine neue universelle und absolute Forderung aufgestellt: die nach interreligiöser Toleranz.