Der erste Adventskranz hatte mehr als 20 Kerzen

In Hamburg begann Diakon Johann Hinrich Wichern 1839, jeden Tag bis Heiligabend eine weitere Kerze anzuzünden

02. Dezember 2012

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Kein Mensch kann sich heute die Vorweihnachtszeit ohne Adventskranz vorstellen. Dabei ist der Brauch noch gar nicht so alt: Erfunden wurde er 1839 im protestantischen Norddeutschland, die katholischen Gegenden übernahmen ihn knapp 100 Jahre später.

Es waren protestantische Familien, in denen die Vorläufer der adventlichen Zeitmesser - Kalender und eben Kränze - im 19. Jahrhundert aufkamen, verbunden mit einer Art Hausliturgie: Gesang, Gebet, Bibellesung. In der Adventszeit wurden Tag für Tag Kreidestriche ausgewischt, Blätter abgerissen, Kerzen stückweise abgebrannt. Das genügte, um geheimnisvolle Spannung zu erzeugen.

Der Vater der protestantischen Diakonie, Johann Hinrich Wichern (1808-1881), war dann vermutlich der erste, der in Hamburg einen Kronleuchter - nach anderen Quellen ein Wagenrad - zum Adventskranz umfunktionierte: Die verarmten Kinder, denen er in seinem "Rauhen Haus" Heimat und Ausbildung gab, hatten ihn ständig gefragt, wann denn nun endlich Weihnachten sei. Um ihre Frage zu beantworten, aber auch um ihnen das Zählen beizubringen, brachte er auf dem Kronleuchter - oder Rad - so viele Kerzen an, wie es Tage vom ersten Adventssonntag bis zum Heiligen Abend waren.

Damit variierte die Zahl der kleinen roten Kerzen von Jahr zu Jahr, nur die vier großen weißen für die Adventssonntage blieben gleich. In seinen Erinnerungen freut sich Wichern: "Was gucken die Knaben- und Mädchenaugen so lustig zum Kronleuchter empor? Oh, was sie da sehen, kennen sie wohl. Es ist nichts als ein einfacher Kranz, den der Kronleuchter auf seinen Armen trägt, und auf dem Kranz brennt das erste Licht, weil heute der erste Adventstag ist (...). Und je mehr Lichter brennen, desto näher rückt Weihnachten und desto froher werden Knaben und Mädchen; und brennt der volle Kranz mit allen 24 Lichtern, dann ist er da, der heilige Christ in all seiner Herrlichkeit."

Seit 1860 etwa wird der Adventskranz mit Tannengrün geschmückt, 1925 übernahm erstmals eine katholische Kirche - in Köln - den Brauch, 1930 wurde der erste Adventskranz in München gesichtet. Der Siegeszug des neuen Brauchtums war nicht mehr aufzuhalten. Nur die Zahl der Kerzen hat sich auf vier reduziert.

Den großen "Originalkranz" gab es lange Zeit nur noch in Hamburg, im Rauhen Haus und in der Hauptkirche Sankt Michaelis. Doch der Greifswalder Bootsbaumeister Robert Schneider produziert wieder Riesenkränze mit kleinen Kerzen für die Werktage vor Weihnachten und vier großen für die Adventssonntage. Abnehmer sind fast ausschließlich Kirchengemeinden.

Vermutlich ist der Adventskranz auch deshalb heute noch ein Renner, weil er so eine dichte und unmittelbar verständliche Symbolik transportiert: Die Kreisform ohne Anfang und Ende steht für Ewigkeit und Unendlichkeit, im christlichen Denken auch für die Auferstehung und für die Gemeinschaft.

Die vier Kerzen auf dem Kranz können als die vier Himmelsrichtungen auf dem Erdkreis gedeutet werden. Das Tannengrün im Winter ist eine Chiffre der Hoffnung: mitten in Eis und Schnee, in Kälte und Dunkel bereitet sich das neue Leben vor. Und natürlich das Licht, das von Sonntag zu Sonntag an Kraft zunimmt: ein sprechendes Bild der Erwartung der Ankunft Christi, dem "Licht der Welt".

Die Farbe der Kerzen richtet sich bisweilen nach der Liturgie: Dann stecken in katholischen Gegenden am Adventskranz drei violette und eine rosa Kerze. Am dritten Adventssonntag, dem Sonntag Gaudete ("Freut euch"), durchbricht dann das fröhliche Rosa das dunkle Violett, das sonst als liturgische Farbe der Adventszeit gilt.

In Schweden ist die erste Kerze in der Regel weiß - die Farbe des Paradieses. Die katholischen Iren halten an den drei violetten und der einen rosa Kerze fest und stellen in die Mitte des Kranzes noch eine fünfte weiße Kerze für den Heiligabend.

Brauchtumsforscher verweisen außerdem auf einen überhaupt nicht christlichen Vorläufer des Adventskranzes: Im frühen Mittelalter konnten sich Mägde und Knechte auf ein ungeschriebenes Gesetz berufen, wonach sie in strenger Winterkälte nicht im Freien arbeiten mussten. Zum Zeichen dafür verstaute man den Wagen, mit dem man sonst auf das Feld fuhr, in der Scheune, schraubte eines der Räder ab und hing es in den Dachfirst oder innen im Haus über den Kamin. Weil man im Rad aber auch ein Sonnensymbol sah, schmückte man es mit immergrünen Zweigen - zum Zeichen der Hoffnung auf die Wiederkehr der Sonne im Frühjahr. (epd)