Psychologische Beratung 2.0

Ein außergewöhnliches Hilfsangebot auf den Fildern

13. September 2012

Sandra Dehn in der Onlineberatungsstelle

 "Hallo! Ich halte es zu Hause bald nicht mehr aus. Meine Eltern streiten sich fast jeden Tag und lassen ihre Laune an mir aus. Wenn ich mich wehre, dann gibt's nur noch mehr Ärger. Meine Mutter flippt manchmal richtig aus. Ich schließ mich dann in mein Zimmer ein und ritz mich, weil es mir so schlecht geht. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Bitte schreibt mir schnell!"

So liest sich eine Nachricht aus Sandra Dehns Postfach. Bei Jugendlichen gehe es meist um Streit mit dem Freund oder der Freundin, Mobbing in der Schule, Probleme mit Lehrern, Liebeskummer oder um Konflikte im Elternhaus. Sandra Dehn ist 34 Jahre alt und studierte Sozialpädagogin, ausgebildete systemische Familientherapeutin und zertifizierte Onlineberaterin. Als Mitarbeiterin der Psychologischen Beratungsstelle Filder, die zum Kreisdiakonieverband Esslingen gehört und Standorte in Bernhausen und Echterdingen hat, hilft sie nicht nur Jugendlichen. Diese machen zwar 40 Prozent der Klienten aus, aber auch Erwachsene nehmen die Onlineberatung in Anspruch. Diese haben meist mit Erziehungsschwierigkeiten, Beziehungsproblemen, Lebenskrisen, Berufsproblemen oder mit Krankheit zu kämpfen.

Zeit ist ein wesentlicher Faktor

Dehn ist eine von zwei Onlineberatern auf den Fildern. Zusammen mit ihrem Kollegen Karl König versucht sie, mit den Klienten eine Beziehung aufzubauen. "Die Menschen müssen ernst genommen werden. Nur wenn sie sich verstanden fühlen und wir ihre Situation und ihre Probleme wertschätzen, ist eine Beratung möglich", so Dehn. Zeit sei ein wesentlicher Faktor bei der Onlineberatung. Haben die Berater das Vertrauen der Klienten gewonnen, versuchen sie herauszufinden, wohin der/die Ratsuchende möchte. Vielen reiche es schon, ihr Problem loszuwerden, andere bringen die Psychologen auf den richtigen Weg. "Es dauert teilweise Wochen, bis die Menschen für Veränderung bereit sind", sagt Dehn, "und bis konkrete Ratschläge dann angenommen werden, manchmal auch Monate."

Die Idee, eine Beratung über das Internet anzubieten, hatte Karl König. Sein Sohn war in Tübingen Mitarbeiter einer Onlineberatung. Die Vorteile hat König schnell erkannt: "Der Teil an Jugendlichen, der persönlich Rat bei uns sucht, ist sehr klein. Online fällt es ihnen leichter, sich zu öffnen." Im Jahr 2008 hat das Beratungsteam auf den Fildern mit den Vorbereitungen begonnen. Im Oktober 2009 ging das Projekt an den Start. König war sich bewusst, dass keine Kapazitäten vorhanden sind, eine bundesweite Onlineberatung anzubieten. Trotz des grenzüberschreitenden Internets versuchte er mit seinem Team, das Angebot auf die Region zu beschränken. Deshalb machten er und seine Mitarbeiter Werbung an Schulen, bei Konfirmanden, Pfarrern und Jugendgruppen. Der Plan ging auf: Über 75 Prozent der Anfragen kommen aus dem näheren Umfeld.

Online - und doch regional begrenzt

Die regionale Begrenzung hat einen Sinn. Elisabeth Rümenapf, die Leiterin der Psychologischen Beratungsstelle Filder, erinnert sich an einen Fall von sexuellem Missbrauch in der Familie. Ein Mädchen hatte sich gemeldet. In solchen Fällen versuchen die Psychologen zu einer speziellen Beratungsstelle zu vermitteln. "Wir sind regional sehr gut vernetzt und pflegen viele Kontakte zu anderen psychologischen Anlaufstellen. Wenn wir auf Hilfe von Kollegen angewiesen sind, wissen wir, an wen wir uns wenden können", so Rümenapf. Einen Nachteil hat die Onlineberatung: Wegen der Schweigepflicht wissen die Berater nie, ob sich die Betroffenen auch wirklich dort gemeldet haben. Zudem ist alles zu 100 Prozent anonym. "Oftmals kennen wir nicht mal den Namen. Da schreiben wir dann monatelang mit "Sonnenblume83" hin und her", erklärt Rümenapf.

 "Ich weiß nicht, was ich machen soll. Als ich zehn Jahre alt war kam meine Mutter ins Krankenhaus. Sie war krank, seit ich auf der Welt war. Und kam sehr oft für eine Zeit ins Krankenhaus. Aber als ich 10 war, sah ich ihren Freund mit Krankenhaustasche vor ihrer Haustür auf sie warten. Ich bin mit meiner Klasse vorbei gelaufen und habe gemerkt, dass was nicht stimmt. Aber anstatt stehen zu bleiben, bin ich weiter gelaufen und habe mich unter dem Schirm versteckt, um nicht erkannt zu werden. Eigentlich hätte ich für meine Mutter in dieser Zeit da sein müssen! Und seit Wochen hab ich total starke Schuldgefühle. Was soll ich machen? Ich kann nicht mehr.

 "Der Leidensdruck bei den Klienten ist immer groß -  ob bei sexuellem Missbrauch oder bei Liebeskummer. Die Probleme der Menschen müssen ernst genommen werden", so Dehn. Bei der Onlineberatung gehe es nicht darum, Ratschläge zu erteilen, sondern mit dem Klienten zusammen Perspektiven zu entwickeln. Das sei schwierig, da die Berater auf die nonverbalen Sinnenkanäle verzichten müssen. "Kommunikation ist zu 75 Prozent nonverbal", so Dehn weiter. Es sei eine große Herausforderung, zwischen den Zeilen zu lesen. Eine Nachricht mit 10 Zeilen nehme ebenso viel Zeit in Anspruch wie eine Face-to-Face Beratung. Der Vorteil sei allerdings, dass genug Zeit vorhanden ist, sich die Antwort zu überlegen. Die Berater können die Nachricht des Klienten lesen, so oft es notwendig ist. Nichts werde überhört, was im persönlichen Gespräch durchaus passieren könne.  Das sei zugleich aber auch die Schwierigkeit: "Wenn die Mail einmal abgeschickt ist, kann ich kein Wort mehr zurücknehmen. Es muss also passen", so Dehn.

Sich selbst nicht herunterziehen lassen

Sandra Dehn weiß sich am richtigen Platz. "Es tut mir gut, wenn die Klienten schreiben, dass ich die Situation klar erkenne. So etwas ermutigt mich weiterzumachen. Wenn ich merke, ich kann den Menschen eine neue Orientierung im Leben bieten, ist das ein schönes Gefühl." Manchmal, daheim beim Zähneputzen, kommt die Psychologin ins Grübeln: "Wie kann ich dem armen Mädchen helfen? Wo setze ich an?" Wie in anderen Berufen lasse einem die Arbeit ab und zu auch in den eigenen vier Wänden keine Ruhe. Elisabeth Rümenapf weiß, wie Psychologen damit umgehen müssen: "Psychologen dürfen sich von diesen seelischen Dingen nicht runterziehen lassen. Wir müssen empathisch sein, ein Echo spüren, um uns in die Lage des Menschen hineinzuversetzen. Aber auf der anderen Seite müssen wir professionell sein, um den Ratsuchenden eine neue Lebensperspektive bieten zu können."

Die Berater nehmen nicht alles mit nach Hause, "aber wenn Kinder involviert sind, beschäftigt das einen schon etwas länger", so Dehn. Eine große Hilfe sei auch der Glaube. "Ich hatte einmal einen Fall, indem es auch um das Wohl eines Kindes ging", erzählt Rümenapf. "Irgendwann merkte ich, dass ich am Ende meiner Möglichkeiten angelangt war. In dem Moment kann ich nicht zu den Eltern nach Hause gehen, das Kind an mich reißen und beispielhaft zeigen, wie man es richtig macht. Dann bleibt einem das Gebet, um für Unterstützung zu bitten -  für das Kind, die Familie und mich. Das ist eine große Quelle." (www.elkwue.de)