Der Polizeipfarrer von Berlin

Reinhard Voigt ist evangelischer Polizeiseelsorger in Berlin

24. April 2012

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Eigentlich war der Polizist gut geschützt, aber die Kugel ist in den Spalt zwischen Helm und Schild eingedrungen und hat den SEK-Beamten getötet. Polizeipfarrer Reinhard Voigt war dabei, als die Angehörigen informiert wurden, und er hat den Polizisten beerdigt. "Manchmal", sagt er, "geht es in meinem Job nicht ums Helfen, sondern nur ums Aushalten."

Reinhard Voigt (61) hat wie alle Polizeibeamte lernen müssen, mit seinen Gefühlen Frieden zu schließen. Anders bliebe keine Kraft für den Alltag: Der evangelische Berliner Polizeipfarrer führt Gespräche mit Polizisten in Krisensituationen, ist Dozent an der Hochschule für Wirtschaft und Recht und an der Landespolizeischule, hat eine Ausbildung als Berater und Supervisor. Er hält Vorträge über den Umgang mit Stress, gehört zum Beirat der Notfallseelsorge - und er feiert mit den Polizisten den Weihnachtsgottesdienst im Berliner Dom, traut sie und tauft ihre Kinder.

In elf Jahren hat er rund 90 Menschen beerdigt, darunter zwei Polizisten, die im Dienst erschossen wurden. Gerade mal 20 gehörten einer christlichen Kirche an. "Aber egal wo: Ich stehe in meinem Talar, mit dem Beffchen und der violetten Stola da, spreche die Psalmen und suche nach einem Stück Hoffnung in einer hoffnungslosen Situation."

Es ist vor allem seine unprätentiöse Bodenständigkeit, der sich die Berliner Polizeibeamten anvertrauen. Weil Voigt authentisch ist, der drahtige Typ, der mit der Polizeisportgruppe boxt und sich richtig von Herzen freut, wenn er mit seinen 61 Jahren nicht der erste ist, der bei den Liegestützen platt am Boden liegen bleibt. Und der denen, die nicht mehr können, die Hand gibt, damit sie wieder hochkommen. "Meine Polizisten", sagt Reinhard Voigt, "können auf mich zählen."

Tag und Nacht: Wenn ein Polizist im Einsatz verletzt wird, gehört Reinhard Voigt zu denen, die die Angehörigen informieren. "Ich bin bei allen größeren Ereignissen vor Ort", sagt er. Er ist auch da, wenn einen Polizisten nach einem Schusswaffengebrauch Schuldgefühle plagen - denn er hat, anders als die Kollegen des Beamten, ein Zeugnisverweigerungsrecht.

Und er ist da, wenn den Chef eines Beamten die Sorge umtreibt, sein Mitarbeiter könnte in einer schweren Krise stecken. "Reden müssen sie", sagt Voigt, "nicht nur mit mir, sondern auch miteinander." Aber wie schafft er es, in einer Situation, die anderen den Boden unter den Füßen wegreißt, Halt zu bieten?

Voigt hat seine Supervision, sagt er. Der Sport hilft ihm. Und dann gibt es schließlich auch noch Gott: "Ohne meinen lieben Gott im Rucksack würde ich in solche Situationen nicht reingehen. Ich vertraue darauf, dass ich die Situation gut wahrnehmen kann und Gott mir die richtigen Worte gibt."

Etwa zehn Mal im Jahr bietet Reinhard Voigt Kletterkurse in der sächsischen Schweiz für Polizeibeamte an, die Seminare des Jahres 2012 sind längst ausgebucht. Tagsüber wird einige Stunden an steilen Felsen gekraxelt, "mit ordentlich Luft unterm Hintern", sagt Voigt. Morgens und am Abend wird dann geredet. "Zur Hoffnung" heißt das Gasthaus, in dem die Seminare stattfinden. "Das ist schon richtig so", sagt Reinhard Voigt.

Aufgewachsen ist er in Leipzig. Ein einziges Mal hat er die Christenlehre, den kirchlichen Unterricht der DDR, besucht. "Aber ich fand die Katechetin doof und bin nicht mehr hingegangen." Er lernte Fernmeldemonteur, machte einen zweiten Abschluss. Mit 17 Jahren fand er zum Glauben: "Der Pfarrer meiner Jugendgruppe hat mich geprägt." Er ließ sich konfirmieren, holte sein Abitur nach und studierte Theologie an der kirchlichen Hochschule in Leipzig.

Seine erste Gemeinde übernahm er 1981 in Possendorf in der sächsischen Schweiz. Das Dörfchen unterschied sich von vielen anderen kleinen Dörfern einzig dadurch, dass es dicht an der alten Europastraße 55 lag, sagt er: "Es war trotzdem eine tolle Zeit."

1988 ging er nach Berlin, leitete die Hoffnungsgemeinde in Pankow, 1998 begann er mit der Krisenberatung am Berliner Dom, 2001 kam er schließlich zur Polizei. Sein Büro hat er bei der evangelischen Landeskirche, es wirkt ein wenig verwaist, meist ist er unterwegs. Auf dem Schrank, hoch oben, steht ein Geschenk seiner Polizisten. Es ist ein Einsatzhelm, silberfarben gestrichen, mit einem steil aufragenden Kreuz obendrauf. (epd)