Uhrwerke mit eigener Seele

An Turmuhren erfordert die Zeitumstellung Kraft und Einfühlungsvermögen

23. März 2012

Angelika Turk beim Stellen der Turmuhr der St. Marienkirche in Ahlum

Die Atomuhr der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig sendet ein Signal und schon finden die Zeiger automatisch ihre Position: Mit modernen Funkuhren wird die Umstellung auf Sommerzeit an diesem Sonntag zur Nebensache. Anders sieht es aus, wenn der Zeitmesser über ein mechanisches Werk verfügt und an einem Kirchturm, einer Schule oder einem herrschaftlichen Anwesen angebracht ist. Dort kann die Umstellung zu einer Kraftprobe werden.

"So ein Uhrwerk hat seine ganz eigene Seele", sagt Jörg-Dieter Besch vom Turmuhren-Museum im niedersächsischen Bockenem. Die Zeiger einfach auf die Sommerzeit weiterdrehen, das geht nicht. Mit dem nötigen Feingefühl und Körpereinsatz lasse sich aber selbst das größte Uhrwerk umstellen.

Angelika Turk steigt spätestens jeden zweiten Tag zur Turmuhr der St. Marienkirche in Ahlum bei Braunschweig hinauf. Die Mechanik aus dem Jahr 1913 hat die Ausmaße eines Wandschranks. Trotz ihrer Wuchtigkeit scheint ihr ein kindliches Gemüt innezuwohnen. "Das Schmuckstück spinnt spätestens nach einer Woche um fünf Minuten in die eine oder andere Richtung", sagt die Küsterin.

Schon im Alltag ist der Aufwand, um Zahnräder, Pendel und Schlagwerk in Gang zu halten, enorm. Mit einer großen Handkurbel muss die 57-Jährige insgesamt vier 70 Kilogramm schwere Gewichte bis unter das Turmdach hieven, sonst würde das klangvolle Ticken der Uhr spätestens am dritten Tag verstummen. "Wer so eine Uhr betreut, braucht kein Fitnessstudio mehr", sagt sie.

Mit einem Schraubenschlüssel wird Turk zur Zeitumstellung vorsichtig Teile der Mechanik lösen, damit das Uhrwerk beschleunigt eine Stunde vorlaufen kann. Mit ganzer Kraft müssten sie und ein Helfer gegenhalten, damit die Gewichte nicht unkontrolliert zu Boden sausen. "Und natürlich müssen wir im richtigen Moment alles wieder festziehen."

Gebaut wurde die Ahlumer Uhr von der Firma Weule, die von 1848 bis 1953 Turmuhren und Glockenspiele herstellte und als eines der weltweit führenden Unternehmen auf diesem Gebiet galt. Weule-Uhren liefen und laufen in Russland ebenso wie in den USA, in Südamerika oder Südafrika. Sie zeichnen sich durch wenig Verschleiß und hohe Reparaturfreudigkeit aus.

Nach und nach werden aber immer mehr Mechaniken durch elektronisch gesteuerte Uhren ersetzt. Moderne Funkturmuhren brauchen weniger Wartungsaufwand und gehen deutlich genauer. Die Braunschweiger Atomuhr als ihr Taktgeber unterliegt nur einer Gangabweichung von einer bis drei milliardstel Sekunden pro Tag.

In vielen Kirchen steht die alte Turmuhr deshalb nur noch als Ansichtsexemplar. So auch in der Klosterkirche in Riddagshausen. Küster Rudolf Schäfer verlässt sich voll auf seine "Zauberbox mit Funkempfang". Alte Uhren haben natürlich ihren Reiz, sagt der 61-Jährige: "Ich bin aber froh, dass ich hier nur noch auf einen Knopf drücken muss und oben bimmelt es."

Angelika Turk wäre schon zufrieden, wenn alle Zifferblätter ihrer Turmuhr die gleiche Zeit anzeigen würden. "Die Lager und Umlenkrollen sind schuld, dass es da nicht ganz passt", sagt sie. Die Menschen im Dorf hätten sich daran gewöhnt. Ihnen macht es auch nichts aus, dass in Ahlum die Sommerzeit schon am Sonnabend eingestellt wird, sagt Turk. "Zum Sonntagsgottesdienst stimmt die Zeit dann ja wieder - zumindest einigermaßen." (epd)