Wie der Vampir in die Kirche kam

Stephan Graf von Bothmer begleitet Stummfilme auf der Kirchenorgel

19. März 2012

Stephan Graf von Bothmer an der Orgel

Mal ist es nur ein dumpfes Blubbern, dann sind es anschwellende Dissonanzen, und schließlich, so scheint es, zieht Stephan Graf von Bothmer auf der Orgelempore der Mainzer Altmünsterkirche alle Register. Dramatisch dröhnen die Akkorde und füllen das Kirchenschiff. Unten in den Kirchenbänken schauen 150 Besucher bei Kerzenschein gebannt auf eine meterhohe Kinoleinwand, wo der kahlköpfige Vampir die Zähne in den Hals der schönen Ellen schlägt. Der Pianist Bothmer ist mit dem Stummfilm-Meisterwerk "Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens" aus dem Jahr 1922 auf Tournee und liefert den Beweis, dass Kirchenorgeln sich durchaus dafür eignen, Vampirfilme zu begleiten.

Bothmer ist 40, aber er wirkt fast jugendlich. "Diese Nosferatu-Tournee läuft gut", freut er sich nach der Ankunft in Mainz. Er könne in großen Hallen auftreten, "deren Namen ich mich gar nicht auszusprechen traue". Für die Aufführungen holt sich der Berliner Musiker meist Verstärkung von Projektchören. Die bilden sich in jeder Stadt neu, die Sänger lernen sich meist erst kurz vor dem Auftritt kennen und haben kaum Zeit zum Proben, was man ihnen aber bei der Aufführung nicht mehr anhört.

Stummfilme begleitet Bothmer seit 1998. Damals hatte ein Berliner Bekannter den gebürtigen Niedersachsen gebeten, ihn bei einer Vorstellung zu vertreten. Zu der Zeit habe es in Berlin drei Kinos gegeben, die mit mäßigem Erfolg auch Stummfilme zeigten: "Da sind selten mehr als 15 Leute gekommen." Der Pianist entdeckte eine große Leidenschaft - und machte sich schließlich als Veranstalter von Stummfilmkonzerten selbstständig.

"Der Stummfilm ist dem Tonfilm in vielerlei Hinsicht überlegen", glaubt Bothmer. Vor allem könnten Film und Musik viel stärkere, oft unterbewusste Eindrücke beim Zuschauer hinterlassen als gesprochene Dialoge. Auch die fünf Oscars für den Stummfilm "The Artist" des französischen Regisseurs Michel Hazanavicius zeugen von dieser Faszination.

Es gibt Filme, die kennt Bothmer nicht einmal, wenn er sich im Stummfilmkino ans Klavier setzt. "Ich frage natürlich vorher: 'Ist das jetzt ein Krimi oder eine Komödie?'", erzählt er. "Aber ich weiß auch nicht, wer der Mörder ist. Meine Spannung überträgt sich auf das Publikum." Mit seinen freien Improvisationen sieht er sich ganz in der Tradition des Genres. Auch Anfang des 20. Jahrhunderts spielte jeder Stummfilmpianist seine eigene Musik. Jede Vorstellung in jedem Kino war einzigartig. Am liebsten hat Bothmer es aber, wenn er sich vorab intensiv mit einem Film beschäftigen kann.

Auch wenn es in manchen historischen Lichtspieltheatern schon Kinoorgeln gab: Bothmers Idee, Stummfilme an Kirchenorgeln zu begleiten, ist relativ neu. An der Orgel, sagt Bothmer, könne er nicht so gut Zwischentöne darstellen wie am Klavier. Dafür hätten Kircheninstrumente aber einen gewaltigen Vorteil: Mit einer Orgel könne er nicht nur Himmels- sondern auch brachial laute Höllenklänge erzeugen: "Ich glaube, die Orgel steht mit einem Bein auf der dunklen Seite. Das ist eine Kraft, die der Flügel so nicht mit sich bringt."

Den Vampirfilm "Nosferatu" in einer Kirche aufzuführen ist nicht die erste unkonventionelle Idee des Komponisten. Bothmer spielte schon live zum Endspiel der Fußball-EM 2008 auf der Kirchenorgel. Er zeigte im Berliner Dom vor Hunderten von Zuschauern "Ben Hur" und weitere Filme und ließ dabei die Seligpreisungen aus der Bergpredigt in der Kirchenkuppel anstrahlen. Ein anderes Mal improvisierte er auf einer Benefiz-Filmaufführung, bei der Geld für die Sanierung der maroden Kirchenorgel gesammelt wurde. "Immer, wenn der Tod kam, habe ich die kaputten Pfeifen gespielt", erinnert er sich.

Daran, dass seine Filmkonzerte auch in Kirchen passen, hat Bothmer nie gezweifelt. Selbst Komödien könnten, in einem Kirchenbau aufgeführt, bei den Zuschauern tiefgründige Gedanken über Dinge wie Schadenfreude auslösen: "Mir hat einmal ein Pfarrer gesagt: 'Alles, was mit dem Menschen zu tun hat, gehört auch in die Kirche.'"

An der Mainzer Altmünsterkirche, wo Bothmer in den vergangenen Jahren mehrfach zu Gast war, sieht man das ähnlich. "Ich habe da keine Berührungsängste", meint Pfarrer Hendrik Maskus. Seine Gemeinde versuche, sich für Kulturveranstaltungen zu öffnen. Noch dazu sei "Nosferatu" ein Film voller religiöser Symbolik und nicht irgendein Klamauk.

Im Berliner Dom habe es dagegen bislang vor so ziemlich jedem Film heftige Debatten gegeben, sagt Bothmer. Es habe begonnen mit der Frage, ob der Altar für die Aufführung verstellt werden dürfe und sei weitergegangen mit der Kritik, in einer christlichen Kirche, noch dazu über der Hohenzollerngruft, dürfe kein sowjetischer Agitpropfilm wie "Panzerkreuzer Potemkin" (1925) von Sergej Eisenstein gezeigt werden. Am stärksten seien die Vorbehalte gegen "Stan und Ollie" gewesen. "Aber im Ergebnis durften wir es immer machen", sagt der Pianist. (epd)