"Christlich-jüdisches Verhältnis ist belastbar"

Fragen an den EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider

10. März 2012

Nikolaus Schneider

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, hat die Beziehung zwischen Christentum und Judentum als belastbar bezeichnet. Nach der NS-Zeit hätten die evangelischen Christen das christlich-jüdische Verhältnis neu bestimmt. Diesen neuen theologischen Ansatz, der auch eine Absage an Judenmission einschließt, habe die jüdische Seite mit ihrer Gesprächsbereitschaft ermöglicht, erinnerte Schneider: "Heute ist das Wissen um unsere bleibenden Wurzeln im Judentum fester Bestandteil evangelischer Theologie."

Verbindende Gemeinsamkeiten könnten betont werden, ohne Trennendes zu ignorieren, sagte Schneider. Dieses christlich-jüdische Grundvertrauen müsse allerdings gepflegt und gefestigt werden. Der evangelische Theologe wird zum Auftakt der diesjährigen "Woche der Brüderlichkeit" am Sonntag in Leipzig mit der "Buber-Rosenzweig-Medaille" der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ausgezeichnet.

epd: Die rheinische Kirche gehört mit dem Synodalbeschluss von 1980 zum Verhältnis von Christen und Juden zu den Vorreitern unter den evangelischen Landeskirchen. Was ist das Wegweisende an dieser Erklärung?

Nikolaus Schneider: Im Grunde ging es um zwei Dinge: Erstens um die Einsicht, dass die Bibel von der bleibenden Erwählung des Volkes Israel spricht. Und daraus folgt zweitens die Frage nach unserem Verhältnis zu diesem Volk Israel und zu den Verheißungen, die Gott seinem Volk gegeben hat. Darüber sagt der Synodenbeschluss, dass wir durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen sind.
Im Mittelpunkt des Synodalbeschlusses steht daher das Bekenntnis: "Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Volk Gottes und erkennen, dass die Kirche durch Jesus Christus in den Bund mit seinem Volk hineingenommen ist." Chana Safrai, eine der jüdischen Dialogpartner hat damals drei Punkte genannt, die aus ihrer Sicht wegweisend an diesem Wendepunkt christlicher Theologie waren: Judesein ist aus Sicht der Kirche nicht länger als defizitär abzuqualifizieren. Juden müssen daher aus Sicht der Kirche keine Christen mehr werden. Auf dieser Basis beginnt ein neues Vertrauensverhältnis zu wachsen.

epd: Auch unter evangelischen Christen gibt es Stimmen, die in Frage stellen, dass die Gründung des Staates Israel als jüdischer Staat ein Zeichen der Treue Gottes ist. Sind die Beziehungen der evangelischen Kirche zur jüdischen Gemeinschaft belastbar?

Schneider: Der Staat Israel ist für uns ein säkularer Staat. Die rheinische Kirche verwendet vor diesem Hintergrund die Bezeichnung "Zeichen der Treue Gottes" auch kritisch: Wenn wir die Staatsgründung Israels als ein Zeichen interpretieren, widersprechen wir damit den so genannten christlichen Zionisten, die die Staatsgründung als Anbruch der neuen Welt Gottes empfinden. Geschichte ist für uns keine Offenbarung. Dennoch können wir Geschichte theologisch interpretieren und darin Gottes Handeln wahrnehmen. Auch innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland gibt es vielfältige und durchaus uneinheitliche Haltungen zum Staat Israel.
Von der Beziehung zum Staat Israel ist die zum Judentum noch einmal zu unterscheiden. Die Beziehung zwischen Christentum und Judentum in Deutschland ist belastbar, weil die evangelischen Kirchen nach der NS-Zeit dieses Verhältnis neu durchdacht und bestimmt haben. Dabei sind wir dankbar und froh, dass die jüdische Seite mit ihrer Gesprächsbereitschaft uns diesen theologischen Neuansatz ermöglicht hat.
Heute ist das Wissen um unsere bleibenden Wurzeln im Judentum fester Bestandteil evangelischer Theologie. In theologischer Nachbarschaft gilt es verbindende Gemeinsamkeiten zu betonen, ohne Trennendes zu ignorieren. Ein christlich-jüdisches Grundvertrauen existiert, es muss aber immer wieder gepflegt und gefestigt werden.

epd: Kritik an der israelischen Politik ist nach Ihren Worten möglich und notwendig. Was sind Ihre Kritikpunkte? Und wo sehen Sie Grenzen für die Kritik?

Schneider: Die Geschichte hat zu einem säkularen Staat Israel geführt, und für seine Existenz gibt es eine völkerrechtlich verbindliche Grundlage. Keinem säkularen Staat sollte man kritiklos begegnen - auch Israel nicht. Die Grenzen der Kritik sind erreicht, wenn das Existenzrecht eines Staates grundsätzlich in Frage gestellt wird oder im Falle Israels die Kritik gar in antisemitischer Weise erfolgt.

Aber Anlass zur Kritik gibt es durchaus. Ich denke beispielsweise an den völkerrechtlich illegalen Siedlungsbau oder an die Beschneidung von Menschen- und Bürgerrechten - dies ist deutlich zu kritisieren, ebenso wie Terror und Gewalt von palästinensischer Seite. Natürlich sehen wir zurzeit mit großer Sorge die drohende Kriegsgefahr, die unter anderem von der Politik des Iran ausgeht. Aber auch die Haltung der israelischen Regierung ist nicht unproblematisch. Ich appelliere an alle Beteiligten, alle Mittel auszuschöpfen, um eine militärische Eskalation zu verhindern.