"Mein Leben ist schon ziemlich paradox"

Der jüdische Holocaustüberlebende Arkadi Chassin lebt heute mit gemischten Gefühlen in Deutschland

26. Januar 2012

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Rund 200.000 Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion kamen seit 1991 als sogenannte Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik. Arkadi Chassin wollte eigentlich nie einer von ihnen werden. Zu sehr hing er an seiner Heimatstadt Odessa. Und nach Deutschland, in das Land der Täter von damals, zog ihn schon gar nichts: Chassin hatte nach dem deutschen Überfall das Elend im jüdischen Ghetto und die Zwangsarbeit im KZ überlebt. Schließlich entschied er sich trotz vieler Bedenken, die Ukraine zu verlassen. Richtig angekommen ist der frühere Seemann und Buchautor bis heute nicht.

Das rheinland-pfälzische Worms ist in vielem das genaue Gegenteil von Odessa, der Millionenstadt am Schwarzen Meer: Klein, überschaubar und weit weg von der Küste. Der 82-jährige Chassin trägt ein schickes dunkles Jackett zur Jeans und seine Gesichtszüge wirken viel milder, als man es bei jemandem erwarten würde, der jahrzehntelang zur See fuhr. Dass es ihn nach einem langen bewegten Leben ausgerechnet nach Deutschland, ausgerechnet nach Worms verschlug, findet er selbst bis heute verwunderlich: "Mein Leben ist schon ziemlich paradox."

Arkadi Chassins Eltern waren nicht geflohen, als die Deutschen und die mit ihnen verbündeten rumänischen Truppen im Sommer 1941 auf Odessa zumarschierten. Die Hafenstadt mit ihrer aus Russen, Ukrainern, Juden, Deutschen, Armeniern und Griechen bunt zusammengewürfelten Bevölkerung war bis zu diesem Zeitpunkt die vielleicht weltoffenste Metropole der Sowjetunion. Chassins jüdische Familie verstand sich gut mit den gebildeten Russlanddeutschen in der Nachbarschaft. Gerüchte, die Deutschen würden alle Juden ermorden, hielt sein Vater für sowjetische Propaganda.

Nur Tage später sah der Junge auf den Straßen die Leichen wahllos hingerichteter Menschen. Vor allem traf der Hass der Besatzer die Juden in der Stadt: Im jüdischen Ghetto wurden Tausende auf engstem Raum zusammengepfercht. Chassins ganze Familie erkrankte dort an Fleckfieber, der Vater starb daran. Den Massakern an der jüdischen Bevölkerung von Odessa als Vergeltung für einen Partisanen-Angriff auf die rumänische Militärkommandantur entging Chassin nur durch einen glücklichen Zufall.

Später wurde er in ein Konzentrationslager auf dem Gelände einer einstigen Schweinefarm verschleppt. Dort gab es zwar keine gezielten Massenhinrichtungen mehr, aber viele Häftlinge starben an Hunger und Erschöpfung. Bis 1944 musste der Junge beim Straßenbau Schwerstarbeit leisten.

Nach der Befreiung konnte sich der damals 14-Jährige seinen Traum erfüllen und Seemann werden, außerdem begann er Bücher und Kurzgeschichten über seine Kriegserlebnisse zu schreiben. Als Bordmechaniker reiste er auf Frachtern rund um die Welt - ein Privileg für Sowjetbürger, die in der Mehrzahl niemals ins Ausland reisen durften. Auf seinen Reisen lernte Chassin auch russische Emigranten kennen. "Das waren alles unglückliche Leute", erzählt er. "Sein Land zu verlassen, das ist immer eine Tragödie."

Auch an seinen ersten Nachkriegskontakt mit Deutschen erinnert Chassin sich bis heute: Als im Hafen von Rostock Deutsch sprechende Männer an Bord kamen, erlitt er einen Nervenzusammenbruch: "Ich begann am ganzen Körper zu zittern und habe mich für eine Stunde in meiner Kajüte eingeschlossen."

In den 90er Jahren engagierte sich Chassin für eine Vereinigung jüdischer NS-Opfer, half Holocaust-Überlebenden, Entschädigungszahlungen zu beantragen. Aus gesundheitlichen Gründen beschloss er schließlich, selbst nach Deutschland zu ziehen, zumindest für einige Zeit. Er war lebensbedrohlich erkrankt, und Ärzte hatten ihm dringend zu einer Operation geraten, die in den maroden ukrainischen Staatskliniken nicht möglich gewesen wäre. Im Jahr 2000 gelangte Chassin mit seiner Frau über das Aufnahmelager in Osthofen ins nahe gelegene Worms.

Anfangs wollte Chassin wieder zurück in die Ukraine. Seine nichtjüdische Frau wollte bleiben, weil sie an dem ruhigen Leben in Deutschland Gefallen gefunden hatte. Er gab nach: "Wir sind seit 55 Jahren verheiratet, und ich fahre bis heute in ihrem Kielwasser."

Doch Vorkommnisse wie der Brandanschlag auf die Wormser Synagoge Ende 2010 machen ihm Angst. Weil seine Frau und er Probleme mit der deutschen Sprache haben, beschränkt sich ihr Bekanntenkreis weitgehend auf die Gemeinde russischsprachiger Emigranten. So wie ihm gehe es allen, die im Rentenalter nach Deutschland gekommen seien, meint Chassin: "Die Leute betrügen sich, wenn sie etwas anderes sagen."