Wie missionarisch ist die Kirche, Herr Bischof?

Interview mit Landesbischof Ralf Meister zum Schwerpunktthema der Synode

02. November 2011

Ralf Meister

In der Regel einmal im Jahr treffen sich die 126 „Kirchenparlamentarier“ der EKD zu ihrer Synode. Vom 6. bis 9. November ist das Schwerpunktthema in Magdeburg „Mission“. Die Vorbereitungen dazu leitete der Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Ralf Meister. Mit ihm sprach Karsten Huhn.

idea: Herr Landesbischof, die EKD beschäftigt sich auf ihrer Synode mit der Frage: „Was hindert, dass ich Christ werde?“ Was sind die größten Hindernisse?

Landesbischof Meister: Es gibt in unserer Gesellschaft ein verändertes religiöses Wahlverhalten. Die Religion wird nicht mehr so einfach vom Elternhaus geerbt, sondern individuell ausgesucht. Und viele Menschen kommen offenbar ohne die Frage nach Gott aus. Zudem ist die Kirche nur noch ein Sinnanbieter neben anderen. Wir haben heute eine multireligiöse Vielfalt im Land.

idea: Warum sollte jemand Christ werden?

Ich würde die Frage für mich anders stellen: Warum soll ich als Christ aufhören, meinen Glauben zeugnishaft zu formulieren? Ich stehe zu meinem Glauben – das ist eine missionarische Geste in diese Welt hinein.

idea: Was verpasse ich, wenn ich kein Christ werde?

Auch das kann ich nur für mich sagen: Die Grunderfahrung, dass Gott mein Leben – meine sündige Existenz – gerecht spricht, ist für mich entscheidend und von unglaublich befreiender Kraft. Diese Befreiung verpflichtet mich dazu, anderen Menschen davon zu erzählen, meinen Nächsten zu suchen und ihm Gutes zu tun – darin liegt der tiefste Sinn meines Lebens. Ich kann aber von keinem fordern: Das alles musst du unbedingt auch haben!

idea: Kann man glücklich sein – ohne Gott?
Oft heißt es, am Ende werde Gott großzügig sein und alle retten. Wenn das so ist – kann ich dann nicht auch fröhlich vor mich hin leben, ohne Christ zu werden?

Natürlich können Sie das! Ich spitze Ihre Frage zu: Kann man auch glücklich sein ohne Gott? Natürlich kann man das! Ich stehe diesen Menschen doch nicht gegenüber und sage: „Du bist nicht glücklich, denn du glaubst nicht an Gott.“ Ich achte auch diese Haltung und rede dem anderen nicht zuerst ein, dass ihm etwas fehlt. Der Glaube ist kein Akt der Gewalt, den man dem anderen von außen hinzufügen kann, sondern er ist eine Bewegung, die von Gott selbst kommt und die der Heilige Geist in uns wirkt. Der christliche Glaube ist ein Angebot, das – so erleben wir es – nicht von jedem Menschen angenommen wird, deshalb gibt es eben auch Atheisten.

idea: Überzeugt haben Sie mich noch nicht
Überzeugt haben Sie mich vom Christsein noch nicht.

Das muss ich auch nicht! Ich übe keinen rationalen Überzeugungsdruck aus, um Menschen von meinem Glauben zu überzeugen. Es war eine der verheerendsten Entwicklungen der Kirche, dass man Mission mit psychischer oder physischer Gewalt verbunden hat und das als Überzeugung im Sinne Gottes verstand. Hinter Ihrer Betonung der Frage „Warum soll ich Christ werden?“ steckt ein Angst-Szenario, das einen zwingen soll, Christ zu werden, um glücklicher zu sein. In der hebräischen Bibel gibt es keinen Hinweis für die Existenz der Hölle; im Neuen Testament kommt sie nur facettenweise vor. Das Szenario „Alles wird schlimm“ existiert in der Bibel nicht. Aber die Frage, wie Gott mit uns im Jüngsten Gericht umgehen wird, ist für mich eine ungeklärte Frage. Also die präzise Verhältnisbestimmung von Versöhnung und Gerechtigkeit.

idea: Auch für Sie persönlich?

Ich habe natürlich eine Versuchung zu glauben, dass es das Jüngste Gericht geben und Gott gerecht sprechen wird. Anders sind die Ungerechtigkeiten dieser Welt oft schwer auszuhalten – wenn ich an Opfer von Gewalt denke, hoffe ich schon, dass Gott ihnen Recht verschafft. Aber ich glaube auch, dass Gott allen Menschen versöhnend gegenübertreten wird.

idea: Glaube braucht Freiheit – nicht Höllenangst
Das Jüngste Gericht findet ohne Hölle statt?

Martin Luther hat sich deutlich von der Existenz der Hölle distanziert. Welche Dimension die Hölle haben kann – das würde ich nicht mit Bildern versehen. Mit Angst vor der Hölle wird man nicht die Freiheit des evangelischen Glaubens kennenlernen. Aber wir machen vielleicht manchmal in dieser Welt schon ausreichende Erfahrungen, die man mit diesem Begriff bezeichnen kann.

idea: Meine Frage zielte darauf, dass Sie mich vom christlichen Glauben begeistern …

Deshalb sage ich: Ich erlebe meinen Glauben an Gott als tiefe Erfüllung und Sinnstiftung. Das ist aber kein Rezept, das ich anderen diktieren kann – es muss gelebt werden, es muss meine Lebenserzählung sein. Mit der Frage „Was habe ich davon?“ geben Sie dem Glauben eine Funktion …

idea: … diese Frage stellten schon die ersten Jünger an Jesus (Matthäus 19,27): „Wir haben alles aufgegeben – was erhalten wir dafür?“

Der Glaube hat Ergebnisse, aber er lässt sich nicht von seinen Ergebnissen  begründen. Der Glaube ist zunächst einmal funktionslos, er entspringt der Begegnung mit Gott. Ihre Frage ist aber typisch modern! Heute fragt jemand nach Religion, weil er einen Zweck erfüllt haben will – zum Beispiel, um getrösteter durchs Leben zu gehen.

idea: Muss sich die Kirche ändern?
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Du musst Dein Leben ändern“. Ist das auch ein Slogan der Kirche?

Jesuanisches Wirken beginnt mit der Umkehr. Es wäre ein großer Irrtum, wenn die befreiende Anerkennung durch Gott, die Erfahrung der Heilstat Jesu Christi, unser Leben unverändert ließe. Die Begegnung mit Gott wird in unserem Leben Wirkung zeigen. Es ist eine der schönsten Veränderungen im Leben, wenn ich mit Gott ein Gegenüber gewinne, dem ich meine Freude und mein Leid im Gebet mitteilen kann. Die Aufforderung zur Umkehr gilt also nach wie vor! Sie darf aber nicht ausschließlich mit dem Diktat eines ganz spezifischen Lebenswandels verbunden werden.

idea: Das Neue Testament ist doch voller Befehle und Ausrufezeichen: Ändert eure Sinne, tut dieses, lasst jenes!

Daraus können wir aber keinen Paragrafendschungel machen, wie das rechte Leben mit Christus im 21. Jahrhundert in der Region von Hannover aussehen muss. Wir leben hier in einer ganz anderen Situation als die Christen der Antike – aber auch als die Heutigen in einem Armutsviertel in Rio de Janeiro, in einem Flüchtlingslager in Somalia oder in Oslo oder in China. Insofern hilft es relativ wenig, die Umkehraufforderung zu vermitteln, wenn sie nicht auf konkrete Menschen in einem konkreten Kontext bezogen ist. Ich würde sagen: Zum großen Kanon, den wir alle heute teilen, gehören die Zehn Gebote und die Hausordnung Gottes in der Bergpredigt. Die Forderung nach Umkehr hat aber eine große Weite. Wir haben in Deutschland fast 50 Millionen Menschen, die sich an die großen Kirchen halten: Das sind – trotz vieler gemeinsamer Erfahrungen und Haltungen – auch fast 50 Millionen Modelle christlichen Lebens.

idea: Braucht die Volkskirche einen Herzschrittmacher?
Zuletzt beschäftigte sich die EKD-Synode 1999 mit dem Schwerpunktthema Mission. Damals diagnostizierte der Theologe Eberhard Jüngel, eine Kirche ohne Mission bekomme „Herzrhythmusstörungen“. Ist das Herz der Kirche heute beschwerdefrei – oder braucht es einen Schrittmacher?

Ich erlebe die Kirche als missionarisch sehr wach. Wir leben die Mission in einer wunderbaren Vielfalt. Dies wird von den unterschiedlichsten Gruppierungen gleichermaßen wertgeschätzt und anerkannt.

idea: Volkskirche und Evangelikale trennt kein Graben mehr
Was genau steht Ihnen vor Augen?

Wir haben seit 1999 eine neue Verbindung: Früher gab es zwischen der missionarischen, evangelikal geprägten Bewegung und der traditionellen, volkskirchlich geprägten Bewegung einen Graben. Man schaute kritisch aufeinander – manchmal sogar verächtlich. Das hat sich deutlich verändert: Wir haben mittlerweile einen guten Austausch. Wir halten heute unsere Verschiedenheit viel besser aus und reagieren mit Wertschätzung aufeinander.
Die Wochenzeitung „Die Zeit“ sieht in den Kirchen wenig Missionsbegeisterung. Sie schreibt: „In den Kirchen wollen die Skrupel nur langsam weichen. Lange stand die Mission bei ihnen in der Ecke wie ein ungezogener Schuljunge. Noch heute wird die Sprache hölzern, wenn es darum geht, dass Christen andere von ihrem Glauben überzeugen wollen.“
Die Medien brauchen ja immer etwas länger, bis sie verstehen, was passiert. Das ist nun wirklich eine falsche Analyse. Ist da immer noch nicht angekommen, dass wir Glaubenskurse anbieten und Tauffeste veranstalten? Ist das keine missionarische Bewegung? Wir agieren facettenreich und fröhlich, mutig und wach, wir teilen aus dem Schatz unseres Glaubens aus – das geschieht in jeder einzelnen Kirchengemeinde.  Das finde ich wunderbar! Oft verstehen die Medien auch nicht, dass wir unsere Mission mit einem Bildungsanspruch vertreten. Uns genügt es eben nicht, einfach Bibeln zu verteilen, sondern wir haben den Anspruch, dass der Glaube auch verstanden wird.
Sind kirchliche Bildungsanbieter überhaupt an Mission interessiert? Der praktische Theologe Godwin Lämmermann beispielsweise schreibt im „Arbeitsbuch Religionspädagogik“: „Als Rekrutierungsstrategie oder als volksmissionarische Offensive verstanden, würde der Religionsunterricht jedenfalls jeden Bildungsanspruch verlieren.“
Für den Religionsunterricht ist das eine absolut richtige Aussage.
Schule und Kindergarten sind keine Orte für Mission

idea: Also Bildung ja, Mission nein?

Religionsunterricht kann nur bedingt missionarisch sein. Uns geht es da nicht um das Gewinnen von Menschen für die Kirche, sondern um die Einführung in religiöse Fragen. Die Schüler werden an den christlichen Wissensbestand herangeführt, damit sie verstehen, was Glauben in dieser Perspektive und Tradition meint, um welche Fragen und Antworten es geht. Wir würden doch sofort aus den Schulen rausfliegen, wenn wir dort Mission als Strategie des Kirchenmitgliederanwerbens betreiben würden!

idea: Kann man als Christ überhaupt unbeteiligt – mit kühlem Herzen – vom Glauben reden?

Nein, denn der Religionsunterricht wird von durch die Kirche berufenen Lehrern und Lehrerinnen erteilt. Der Religionslehrer führt – heute zunehmend – seine Schüler in eine Fremdsprache ein, die er selbst spricht. Er ist also keineswegs unbeteiligt – aber eben auch nicht eng missionarisch.

idea: Gilt das Missionsverbot auch für evangelische Kindertagesstätten und Schulen?

Gleichermaßen! Sie werden zum großen Teil staatlich finanziert – würden wir hier missionarisch orientierten Unterricht machen, wäre diese Unterstützung schnell fort. Die Aufgabe der Kirche in Kindertagesstätten und Schulen ist nicht Mitgliedergewinnung. Es geht dort darum, den Kanon christlicher Tradition kennenzulernen und sprachfähig für Glaubensthemen zu werden – und das gelingt ja gut. Das trägt übrigens auch zu Verständnis und Respekt gegenüber anderen Religionen bei. Wir sollten religiöse Bildung und Mission nicht vorschnell gleichsetzen.

idea: Auf den Begriff „Mission“ verzichten?
Mission hat immer noch etwas Schmuddeliges.

Nein, ich habe überhaupt kein Problem damit. Wir haben im Vorbereitungsausschuss zur EKD-Synode kurz überlegt, ob wir auf den Begriff „Mission“ verzichten sollten oder nicht. Natürlich sind wir dabeigeblieben! Ein Missbrauch des Begriffes verwirkt nicht den rechten Gebrauch.
idea: Anfang des Jahres wurden 24.000 Handbücher mit Informationen zu diesen Kursen an alle Pfarrer der EKD-Gliedkirchen geschickt. Bisher wurden bei der EKD aber erst 600 Kurse registriert. In vielen Pfarrhäusern scheinen die Handbücher unausgepackt in der Ecke zu verstauben.
Hören Sie auf, das frustriert mich nur! Ich bin voller christlicher Hoffnung, an das Unmögliche zu glauben. Diese Kurse sind für die Kirche eine riesige Chance! Wir müssen da hartnäckig bleiben. Und wie gesagt: Wir dürfen nicht vergessen, was im Alltag der Kirchengemeinden passiert – sei es im sonntäglichen Gottesdienst oder in einer der vielen Gruppen und Kreise.

idea: Mit dem Stau am Alexanderplatz missionieren
Welche Ideen hat die Kirche außer Tauffesten und Glaubenskursen noch?

Wir müssen die christliche Tradition so revitalisieren, dass sie zu einer sichtbaren Unterbrechung in dieser Welt wird. In meiner Zeit als Generalsuperintendent in Berlin haben wir deshalb die Karfreitagsprozession durch die Stadtmitte wieder aufleben lassen. Wir haben den Kern unseres Glaubens – Tod und Auferstehung Jesu Christi – oftmals hinter einer Ostereier-Inflation versteckt. Passion und Ostern so zu inszenieren, dass am Berliner Alexanderplatz ein Stau entsteht: So lässt sich der Glaube wieder ins Gespräch bringen.

idea: Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person Ralf Meister:

Ralf Meister wurde am 26. März als Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers eingeführt – der mit rund 2,9 Millionen Mitgliedern größten innerhalb der EKD. Zuvor wirkte er als Generalsuperintendent des Berliner Sprengels der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und von 2001 bis 2008 als Propst des Kirchenkreises Lübeck der Nordelbischen Kirche. Von 2004 bis 2010 war er einer der Sprecher des „Wortes zum Sonntag“. Der 49-Jährige ist verheiratet und Vater von drei Kindern.