Zauberberg heute - Brief aus Davos

Pfarrerin Christa Leidig in der Hochgebirgsklinik im Schweizer Graubünden fragt auch mal: Was nimmt Ihnen den Atem?

18. August 2011

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Die Alphornbläser beginnen zu spielen. Tiefe, wummernde Töne liegen in der Luft. Es ist der 24. Juni, Johannistag, auf der Höhe des Sommers. Mit gerade mal acht Grad ist es an diesem Abend aber ungewöhnlich kalt, selbst für die Höhe von 1600 Metern. Wir ­rücken eng zusammen. Oberhalb des Davosersees, von Bergen ­umgeben, liegt die Hochgebirgsklinik. Auf dem kleinen Waldfriedhof dahinter versammeln sich heute Patientinnen und Patienten, Kinder und Jugendliche mit ihren Betreuern, mit Mitarbeitern, Einheimischen und auch einigen Touristen. Die Hochgebirgs­klinik ist die einzige deutsche Klinik in der Schweiz, die aus der Zauberberg-Welt des letzten Jahrhunderts geblieben ist. Es ist eine feste Tradition geworden, der Gründer Herman und Olga Burchard am Johannistag mit einer ökumenischen Feier zu gedenken.

Kein anderer Ort ist für seine Heilstätten und Sanatorien zur Behandlung von Tuberkulose so bekannt geworden wie Davos. Die Liegekuren in der sonnigen und reizarmen Höhenlage waren für viele Lungenkranke die einzige Hoffnung auf Genesung. Auch der Hamburger Kaufmannssohn Herman Burchard kam Ende des 19. Jahrhunderts schwer krank hierher und wurde gesund. Er wusste aber, dass ein Klinikaufenthalt für viele seiner Landsleute nicht finanzierbar ist. Seine Frau Olga erwähnt 1897 in ihrem Tagebuch „Hermans ernste Erwägung, ein Haus für deutsche, geldarme Kranke zu gründen – als Gottes Auftrag an ihn, nach seiner eigenen Besserung“. Das tief im Glauben verwurzelte Ehepaar Burchard gründete 1898 den Verein Deutsche Heilstätte in Davos, in den es sein Vermögen steckte. So konnte bereits im Jahr 1901 ein Sanatorium für 80 Tuberkulosekranke aus Deutschland eröffnet werden, die heutige Hochgebirgsklinik.

Als in der Mitte des Jahrhunderts wirksame Medikamente gegen Tuberkulose auf den Markt kamen, veränderten sich Davos und seine Kliniklandschaft. Ab den fünfziger Jahren verwandelten sich viele Sanatorien in Hotels, andere verschwanden ganz. Der renommierte Luftkurort wurde ein international geschätzter ­Ferienort. Die Hochgebirgsklinik gab im Jahr 1972 die Behandlung von Tuberkulosekranken auf. Heute werden hier Kinder, ­Jugendliche und Erwachsene mit häufig chronischen Lungen-, ­Allergie- und Hauterkrankungen behandelt. In der Regel bleiben sie zwischen drei und fünf Wochen. Die Patienten kommen überwiegend aus Deutschland, Träger der Klinik ist immer noch die Stiftung Deutsche Hochgebirgsklinik Davos, die aus Burchards Verein hervorgegangen ist.

Zum Auftrag der Heilstätte gehörte von Anfang an auch die geistliche Begleitung der Kranken, die oft monatelang weg von zu Hause waren. Bis vor knapp zehn Jahren prägten auch Diakonissen das geistliche Leben. Die beiden großen Kirchen entsandten zudem Geistliche nach Davos zur Begleitung der vielen deutschen Kranken. Heute gibt es nur noch die eine deutsche Klinik, und wir arbeiten hier zu zweit: Mein katholischer Kollege Hans Zimmermann wurde von der Deutschen Bischofskonferenz entsandt und ich von der EKD für die Dauer von sechs Jahren.

Die Gemeinde, die ich hier in der Klinik betreue, ist eine ­„Gemeinde auf Zeit“. Sie verändert sich jede Woche. Menschen aus ganz Deutschland und auch der Schweiz gehören dazu, ebenso wie kirchlich Beheimatete, Distanzierte oder aus der Kirche Ausgetretene. Verbunden sind diese Menschen durch die Herausforderung, den Alltag mit der meist chronischen Erkrankung bewältigen und diese in ihr Leben integrieren zu müssen. Unser Angebot als ökumenische Klinikseelsorge: Wir wollen sie dabei begleiten. Es ist für alle offen, unabhängig von der Konfession oder Religion. Wir feiern Gottesdienste und Abendbesinnungen, wir nehmen uns Zeit für Seelsorgegespräche und auf Wunsch für Gebet und Segnung. Daneben gibt es auch religiös ungebundene Angebote: Vortragsreihen, Film- und Gesprächsabende, organisierte Ausflüge für Menschen, die die Klinik nur schwer allein verlassen können.

In dieser Gemeinde auf Zeit begegnen mir viele Lebensgeschichten. Sie weiten meinen Blick für die Menschen, die mir im kirchlichen Umfeld sonst kaum begegnen. „Ich war noch nie bei einem Pfarrer zum Gespräch. Ich wollte einfach einmal wissen, was in einem solchen Gespräch geschieht“, erklärte mir ein Mann, der bei der Aufnahme in die Klinik angegeben hatte, dass er ein Gespräch mit der Klinikseelsorgerin wünsche.

Da saßen wir dann einander gegenüber: er erwartungsvoll und unsicher, ich vorsichtig ihm anbietend, dass er das zur Sprache bringen könne, was ihn beschäftigt. Aus dieser ersten Begegnung entwickelte sich eine Reihe von intensiven Gesprächen. Der Abstand zum gewohnten Umfeld, die Zeit, sich selbst wahrzunehmen, und auch die Notwendigkeit, sich der eigenen Lebenssituation zu stellen, werfen oft sehr grundsätzliche Fragen auf. Was nimmt mir die Luft? Wo ringe ich um Atem? Wie kann ich mein krankes Kind aus meiner ständigen Sorge um sein Wohlergehen entlassen? Wie geht es weiter? Und nicht zuletzt die wiederkehrende Frage: Warum ­gerade ich? Warum meine Familie?

Unsere Gemeinde auf Zeit möchte einen Raum bieten für diese Fragen, für Begegnung und Austausch. Für manche Menschen ist es auch eine Möglichkeit, wieder – oder zum ersten Mal – eine geistliche, seelsorgliche und gemeinschaftliche Erfahrung zu ­machen. Eine ehemalige Patientin schrieb uns: „Ich war in der Hochgebirgsklinik oft für mich allein im Kirchsaal und habe die Ruhe dort genossen. Jetzt habe ich festgestellt, dass unsere Kirche zu Hause auch tagsüber geöffnet ist. Ich habe mich schon hineingewagt. Das tut mir gut.“ Gemeinde auf Zeit ereignet sich sehr unterschiedlich, ihre Dynamik ist nicht planbar, sie muss sich ­immer wieder neu finden. Das ist die Herausforderung, die mir als Pfarrerin in der Klinik begegnet.

Sechzig Prozent meiner Tätigkeit gelten der Hochgebirgsklinik Davos im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Mit weiteren vierzig Prozent bin ich bei der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Davos Dorf/Laret als Gemeindepfarrerin angestellt. Hier ist für mich die „Gemeinde der Kontinuität“. Im Sonntagsgottesdienst blicke ich in vertraute Gesichter, und beim Einkaufen werde ich auf Schwyzerdütsch angesprochen: „Grüazi, Frau Pfarrer, wia goht’s Ihna?“ Unter Schweizern begegne ich mir neu, etwa wenn ich unruhig in der Einkaufsschlange stehe und beobachte, mit welcher Ruhe die anderen warten ­können. Oder wenn mir Bemerkungen schnell über die Lippen kommen, während viele Schweizer erst einmal nachdenklich in die Runde blicken. Ich entdecke die „Entschleunigung“.

Solche Kooperation der EKD mit einer Kirche vor Ort ist übrigens einmalig. Ich bin direkt bei einer Kirchengemeinde angestellt, wie es der reformierten Tradition in Graubünden entspricht. Die Gemeinden können in vielen Bereichen selbstständig entscheiden. So entscheidet die Gemeindeversammlung über die Höhe des Kirchensteuersatzes oder die Anstellung der Pfarr­person. Das begrenzt einerseits die Position als Pfarrerin, denn ich  habe zum Beispiel im Kirchenvorstand kein Stimmrecht, ­sondern bin als Angestellte nur beratendes Mitglied. Anderer­-seits übernimmt der Vorstand einen Großteil der Verwaltung und Organisation, und mir bleibt mehr Zeit für meine „eigentlichen“ Aufgaben: für Besuche und Gespräche, Vorbereitung und Über­legungen zur Gemeindearbeit.

Ein Ort und zwei Gemeinden. Davos: Das sind für mich aber noch weitere unterschiedliche Welten: Deutsche und Schweizer, Lutheraner und Reformierte, Kranke und Gesunde. Ich bewege mich gerne in und zwischen diesen Welten. Ich spüre dabei, wie vielfältig das Leben ist.