"Wir sahen das Unrecht, ohne einzugreifen"

Der 99-jährige Albrecht Heymann war in der NS-Zeit Pfarrer der Bekennenden Kirche

10. August 2011

Albrecht Heymann

Nach dem Tod des lungenkranken nationalsozialistischen Ortsgruppenleiters waren nicht alle Trauergäste begeistert von Albrecht Heymanns Trauerpredigt. Wie er es wagen könne, ausgerechnet über einen Text aus dem Alten Testament, dem "Judenbuch", zu sprechen, fauchte ihn ein NS-Bonze an. Mit 23 Jahren hatte der junge Theologe 1935 seine erste Pfarrstelle zugewiesen bekommen - die beiden Westerwald-Ortschaften Roßbach und Freirachdorf. Heymann, inzwischen 99 Jahre alt, ist einer der letzten Zeitzeugen, der über seine Zeit als evangelischer Pfarrer im Dritten Reich berichten kann. Und darüber, wie er in Konflikt mit dem System geriet.

Auch in den meisten evangelischen Landeskirchen hatten nach der Machtübernahme von Adolf Hitler nationalsozialistische Kräfte die Oberhand gewonnen. In der Bekennenden Kirche organisierte sich eine Gegenbewegung zu den von den antisemitischen "Deutschen Christen" dominierten offiziellen Kirchenleitungen. Schon als Student am Predigerseminar sei für ihn klar gewesen, auf welcher Seite er stehen würde, sagt Heymann, der heute in Worms lebt: "Die Bekennende Kirche war theologisch und geistlich die führende Kraft." Der junge Pfarrer weigerte sich, die offizielle Kirchenleitung anzuerkennen und hielt stattdessen dem Landesbruderrat der Bekennenden Kirche die Treue.

Wegen Ungehorsams gegenüber den Dienstvorgesetzten wurde er bald von seinem Pfarramt enthoben, sein Kirchenvorstand allerdings beschloss, dass der Pfarrer bleiben solle. Die Kirchenleitung schickte einen Nachfolger in den Westerwald. Der nahm die Kirchenschlüssel an sich, aber kaum jemand besuchte seine Gottesdienste. Heymann predigte zeitgleich einfach im eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt gelegenen Nachbardorf - damals eine typische Situation vieler zerrissener Kirchengemeinden. "Wir hatten weder Pfarrhaus, noch Kirche, aber wir hatten die Gemeinde", erzählt der Theologe. "Dieser Rückhalt war ein Erlebnis, das mich mein ganzes Leben lang getragen hat."

Nachdem Heymann schließlich von den NS-Behörden aus dem Landkreis ausgewiesen und seine Wohnung zwangsgeräumt worden war, wagten die Bauern im Ort einen für die damalige Zeit bemerkenswerten Akt zivilen Ungehorsams. Sie weigerten sich, ihre Milch an den bei der Wohnungsräumung beteiligten Milchfahrer zu verkaufen, was die Polizei als Sabotageakt einstufte. Als mutmaßlicher Drahtzieher wurde Albrecht Heymann in Untersuchungshaft genommen, saß zwei Wochen im Gefängnis der Kreisstadt Hachenburg. "Bei der Einlieferung musste ich als erstes meine Hosenträger abgeben, damit ich mich nicht erhängen konnte", erinnert er sich. Später, nach einer zweiten Festnahme, kam er sogar in eine Gestapo-Zelle in Frankfurt.

Schließlich wurde der Pfarrer ohne offizielle Anklage wieder entlassen. Die Bekennende Kirche wies Heymann einer Gemeinde in Worms zu, die illegale Parallelstrukturen zu denen der Amtskirche aufgebaut hatte. "Der Landesbruderrat hat immer für uns gesorgt", erzählt er. "Woher die das Geld hatten, ist mir bis heute ein Rätsel." Nach Kriegsbeginn wurde der Theologe zur Wehrmacht eingezogen, marschierte als einfacher Soldat zuerst mit den deutschen Truppen durch Frankreich und erlebte dann den Horror des Russland-Feldzugs, wo er schwer verwundet wurde.

Als die hessen-nassauische evangelische Landeskirche sich nach dem Krieg eine neue Grundordnung gab, wurde mit Martin Niemöller ein führender Vertreter der Bekennenden Kirche zum ersten Kirchenpräsidenten gewählt. Heymann, der sofort nach Ende der NS-Zeit wieder in den Pfarrdienst aufgenommen wurde, gehörte zu den Teilnehmern der Gründungssynode. Die Schrecken des Weltkriegs hatten sein Gottvertrauen nicht erschüttern können.

Die Bekennende Kirche sei bereit gewesen, die kirchliche Unabhängigkeit gegen staatliche Bevormundungen notfalls bis aufs Blut zu verteidigen, doch politisch sei sie nicht in Erscheinung getreten, bedauert der Pfarrer heute: "Das furchtbare Unrecht sahen wir, ohne einzugreifen. Wir haben es geduldet, dass die Juden vertrieben wurden." All dies sei auch den Mitgliedern der Bekennenden Kirche aber erst im Laufe der Zeit wirklich bewusstgeworden.