Denker auf der Grenze

Vor 125 Jahren wurde der evangelische Theologe Paul Tillich geboren

06. August 2011

Paul Tillich

Sein Lebensthema war die Grenze. Der Theologe Paul Tillich schlug Brücken zwischen den USA und Europa, zwischen Theologie und Philosophie, Kirche und Gesellschaft, Katholiken und Protestanten sowie Religion und Kunst. Vor 125 Jahren, am 20. August 1886, wurde er in Starzeddel geboren, einem kleinen Ort im heutigen Polen. Als er am 22. Oktober 1965 in Chicago starb, war Tillich in Amerika so berühmt, dass die Nachrichtenagentur UPI eine Sendung unterbrach, um seinen Tod zu melden. 

Als Vertreter des religiösen Sozialismus musste Tillich 1933 gemeinsam mit seiner Frau Hannah aus Deutschland emigrieren. Er lehrte in New York, in Harvard und schließlich in Chicago. In den USA wurde er bald zum führenden theologischen Denker und Gelehrten - trotz seiner bis zuletzt anhaltenden Schwierigkeiten mit der amerikanischen Sprache. Ein Zeitgenosse erinnerte sich: "Englisch war für ihn leicht zu lesen, schwer zu verstehen und außerordentlich schwer zu sprechen; das Sprechen war für ihn eine einzige Tortur." 

Dennoch muss er sich in den USA wohlgefühlt haben, ein Asket war er offenbar auch nicht: Seine Ehefrau Hannah schreibt in ihren Lebenserinnerungen: "Wir nahmen immer einen Cocktail vor dem Essen. Mittags bevorzugte Paulus einen süßen Madeira oder Marsala oder einen Sherry." Später dann, so Hannah Tillich, habe man gelegentlich an einem Cinzano genippt und ferngesehen. 

Der Philosoph Theodor W. Adorno bescheinigte Tillich Mitte der 1960er Jahre, dieser habe mit dem Bild eines moralinsauren protestantischen Pfarrers nichts gemein. Tillichs Wesen war zudem frei von jeder Aggression, erinnerte sich der Theologieprofessor Carl-Heinz Ratschow (1911-1999) an seine Begegnungen mit dem Gelehrten. Auch in seinen Werken, die nach dem Krieg aus dem Amerikanischen erst ins Deutsche übersetzt werden mussten, "gibt es keine Polemik und Rundum-Verteidigung." Der Theologe und Publizist Heinz Zahrnt (1915-2003) schrieb: "Tillich gehört zu den großen spekulativen Geistern, die eben auch große Versöhner sind." 

Und sein Biograf Gerhard Wehr bilanzierte, Tillich weise als religiöser Denker einen Weg zur Ganzheit. Mit seiner Deutung der christlichen Botschaft als das, "was uns unbedingt angeht" erreichte er auch Menschen abseits der Kirchen. Religiöse Inhalte müssen den Menschen "unmittelbar berühren", damit sie verstanden werden. 

Die Menschen in der Moderne, war sich Tillich sicher, werden noch immer von den Fragen bewegt, "die sie schon vor zweitausend und mehr Jahren bewegt haben: die Frage nach der Schuld, die Frage nach der Liebe, nach der Gerechtigkeit in der Welt, nach dem Sinn des Lebens, nach dem Tod". 

Die erschütternden Erfahrungen im Ersten Weltkrieg als Feldprediger veranlassten Tillich zu einer völligen Neuorientierung seiner Weltanschauung. Der idealistische Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts fand für ihn auf den Schlachtfeldern von Verdun ein Ende. Wahrer Glaube war für Tillich "Mut zum Sein" - dies ist auch der Titel einer seiner bekanntesten Schriften. Das bedeutete für Tillich vor allem Mut, der Verzweiflung standzuhalten. 

Dem traditionellen Gottesbild, das sich ein höchstes Wesen vorstellt, gab Tillich eine Absage: Gott erscheine den Menschen oft erst dann, wenn Gott bereits "in der Angst des Zweifels untergegangen ist". Im Grundzustand, beschrieb Tillich, sei jeder Mensch entfremdet - von Gott, von anderen und von sich selbst. 

Kirche verstand er vor allem als spirituelle Gemeinschaft: "Eine Kirche, die nichts anderes ist als eine wohlwollende, sozial nützliche Gruppe, sollte durch andere Gruppen ersetzt werden, die nicht den Anspruch haben, Kirche zu sein. Eine solche Kirche hat keine Existenzberechtigung." 

Als Religionsphilosoph deutete Tillich - der sich Zeit seines Lebens klar zum Luthertum zählte - das Christentum nach den Krisen des 20. Jahrhunderts neu. Die christliche Kultur sei zwar nicht das Reich Gottes, "aber sie ist eine ständige Mahnung an das Reich Gottes." 

Im "Paul Tillich Park" in New Harmony im US-Bundesstaat Indiana erinnert heute eine Büste an einen der großen Denker des 20. Jahrhunderts. In dem Park wurde seine Asche am Pfingsttag 1966 bei Sonnenaufgang beigesetzt. 

In New Harmony erprobten bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgewanderte Europäer genossenschaftliche Produktions- und Lebensformen, die einen christlichen utopischen Sozialismus vorwegnehmen sollten. Doch Tillichs Lebenswerk hat bis heute noch nicht den rechten Durchbruch erfahren. Seine Leistung für eine Erneuerung der protestantischen Theologie sei noch im Kommen, meinen viele. (epd)