Eine neue Form von "Wahlverwandtschaften"

Ehrenamtliche Patenschaftsprojekte finden bundesweit immer mehr Verbreitung

12. Juli 2011

20110711_patenschaften470

Die Gießenerin Marion Lücke-Schmidt mischt sich gerne ein. Sie ist bei den Landfrauen, im Geselligkeitsverein, im Sportverein, in der Kommunalpolitik aktiv und studiert Sozialwissenschaften. Über die Mitarbeit im Hospizverein lernte sie Menschen mit Demenz kennen und engagiert sich künftig auch noch ehrenamtlich als Demenzpatin. Dabei soll sie das Thema Demenz, das mit vielen Vorurteilen und Tabus behaftet ist, in andere Institutionen tragen. "Ich fand die Grundidee gut, ein Netzwerk aufzubauen", sagt die 39-Jährige. Patenschaftsprojekte, auch auf anderen sozialen Feldern, liegen Experten zufolge im Trend.

"Es gibt beim Thema Demenz große Wissenslücken", weiß die Koordinatorin des Gießener Projekts, Sandra Dittrich. "Wir wollen Unsicherheiten abbauen." Die Demenzpaten sollen Vereine, Kirchengemeinden und ihre Mitwelt "sensibilisieren" und mit "Angehörigen und Betroffenen gemeinsam Wege finden" und damit, anders als der Name vermuten lässt, keine Kranken betreuen. Insgesamt 25 Demenzpaten hat die "Initiative Demenzfreundliche Kommune" für die Stadt und den Landkreis Gießen ausgebildet.

Patenschaften in der ehrenamtlichen Arbeit liegen im Trend. "In Berlin haben wir in den vergangenen zehn Jahren eine Verzehnfachung der Projekte erlebt. Hier entsteht ein Projekt nach dem anderen", berichtet Bernd Schüler, der bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen für Patenschaften zuständig ist. Konkrete Zahlen über Projekte und Patenschaften existierten allerdings nicht. In den USA besäßen etwa drei Millionen Kinder und Jugendliche einen "Mentor", der sie ehrenamtlich betreut.

Dort sei die Mentoring-Idee vor rund hundert Jahren entstanden mit dem Ziel, verwahrlosten Kindern einen Betreuer zur Seite zu stellen, berichtet Schüler. In Berlin starteten vor rund zwanzig Jahren die ersten "Wunsch-Großelterndienste", die "Leih"-Omas und -Opas an Familien vermitteln. "Großelterndienste haben auch heute noch den meisten Zulauf, weil die normale Familienrolle der Oma besetzt wird", erklärt Schüler.

Daraus entwickelten sich inzwischen Patenschaftsprojekte für Kinder, deren Eltern süchtig oder psychisch krank sind, für Migranten, für straffällig gewordene Jugendliche, Lese-Patenschaften, Projekte für Altenheimbewohner oder Rheumapatienten, Besuchsdienste, Mentoring-Programme in der Wirtschaft und zum Übergang von Schule zum Beruf.

"Für die älteren Freiwilligen ist meist das Motiv, dass sie Kontakt zu Jugendlichen bewahren und etwas weitergeben wollen", hat der Sozialwissenschaftler beobachtet. "Attraktiv" sei die persönliche Beziehung zum Paten, die zu einer Art "Wahlverwandtschaft" führt. Doch genau an diesem Punkt scheitern viele Patenschaften: "Paten kommen oft in eine ihnen völlig fremde Welt, die sie nicht gleich verändern können." Manchmal seien die "Lebenswelten zu unterschiedlich".

Feststeht jedenfalls, dass trotz des Booms noch viel Bedarf herrscht. In den USA gehe man davon aus, dass 15 Millionen Kinder einen Mentor bräuchten. "Auch bei uns gibt genug Kinder, die davon profitieren könnten", sagt Schüler. "Umfragen zeigen: Es gibt eine große Bereitschaft, aber die Menschen brauchen einen Impuls."

Ähnliches hat Randolf Gränzer, Vorsitzender des Fördervereins Patenschaften-Aktiv, festgestellt: "Das Interesse der Öffentlichkeit an den Projekten besteht, wenn sie denn davon erfährt." Der Münchener Verein führt eine zentrale Datenbank für Patenschaften. Mehr als tausend Projekte in 800 Städten sind aufgelistet. Sowie Berichte in den Medien erscheinen, schnellen die Nutzerzahlen seiner Website in die Höhe. Gränzer hofft, in der Wirtschaft Unterstützung für eine Info-Kampagne zu finden: "Man müsste die Idee noch bekannter machen. Es geht darum, Ehrenamtliche zu finden." (epd)