Die andere Welt verstehen

Neuartiges Wohnprojekt begleitet autistische Menschen dauerhaft durch Beruf und Alltag

09. Juni 2011

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München (epd). "Der Kühlschrank ist voll", sagt Robert Schott (Name geändert) zu einer fremden Frau in der Münchner U-Bahn. Sie wendet sich ab, versteht seinen Smalltalk-Versuch nicht. Wieder einmal bleibt Robert allein, doch schlimm findet er das nicht. Den Kontakt mit anderen Menschen hält Robert ohnehin für anstrengend. Sein Betreuer hat ihm erklärt, man tausche zu Gesprächsbeginn Belangloses aus. Doch Robert versteht wenig von Konventionen und "soft skills". Er erkennt keinen Unterschied zwischen der Belanglosigkeit "Schönes Wetter heute" und "Der Kühlschrank ist voll".

Wie knapp eine halbe Million Menschen in Deutschland leidet Robert an der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung Autismus. Gemeinsam mit sechs anderen Autisten lebt er in einer Münchner Wohngruppe für Menschen mit Asperger-Syndrom des Heilpädagogischen Centrums Augustinum. Bei Autismus unterscheidet man zwischen frühkindlichem Autismus, der häufig mit geistiger Behinderung und verminderter Intelligenz einhergeht, und dem Asperger-Syndrom ohne verminderte Intelligenz. Beiden gemein ist eine Störung des Sozialverhaltens und der Wahrnehmung. Autismus gilt als nicht heilbar, als Ursache wird ein genetischer Defekt vermutet.

Meist sind Asperger-Autisten durchschnittlich oder herausragend intelligent. Woran es ihnen mangelt, sind Zeitmanagement, Selbstständigkeit und Flexibilität. Sie haben Probleme mit ihrem Sozialverhalten und der Wahrnehmung von Sinneseindrücken. Als eine der ersten Einrichtungen in Deutschland bietet die Wohngruppe des Augustinums Robert und anderen Betroffenen nun nicht nur während einer Therapie ein Zuhause, sondern auf Dauer.

Die 18- bis 30-Jährigen lernen Alltägliches: Einkaufen, Kochen, Körperhygiene. "Viele haben kein Gefühl, wie fest man beim Putzen wischt oder sind mit dem Supermarktangebot überfordert", beschreibt Fachdienstleiterin Paula Radlbeck-Cooper. Wenn sie die Bewohner zum Einkaufen schickt, muss der Zettel deshalb ganz konkret sein: nicht "Nudeln", sondern "Spaghetti der Marke xy, im dritten Regal rechts oben".

Um die sozialen Kompetenzen zu verbessern, initiieren die Betreuer Rollenspiele und motivieren die Autisten zu gemeinsamen Aktivitäten - häufig eine schwierige Aufgabe, weil die Bewohner sich lieber alleine in ihre Zimmer zurückziehen. Auch mit scheinbaren Selbstverständlichkeiten haben sie oft Schwierigkeiten. Auf die Frage "Könntest du das Fenster zumachen?" würden viele es nicht schließen, sondern die Frage wörtlich verstehen und antworten: "Ja, das könnte ich."

Die Betreuer helfen den Autisten auch beim Anziehen. Hannes Köhler (Name geändert) etwa fiele sonst durch Hochwasserhosen auf. "Er verstand nicht, wie hoch man eine Hose zieht und trug sie knapp unter der Brust", erzählt Josef Schillhuber. Um ihm zu helfen, klebten die Betreuer eine Markierung auf den Boden, auf die er sich jetzt zum Anziehen stellt. Am Spiegel klebt eine zweite Markierung. Augustinum-Mitarbeiter Schillhuber erklärt: "Hannes hat gelernt: Wenn er auf der einen steht und in den Spiegel schaut, muss sein Hosenbund auf Höhe der anderen sein."

Robert arbeitet als Bürokaufmann, Hannes ist Lagerist. Dass Menschen, die Schwierigkeiten beim Anziehen einer Hose haben, normalen Berufen nachgehen, irritiert viele. Doch jeder vierte Autist kann nach Expertenmeinung auf dem Arbeitsmarkt bestehen. "Wichtig ist eine logische Reihe von Arbeitsschritten, vorgegebene Zeiträume und feste Ansprechpartner", erklärt Radlbeck-Cooper. "Manche verstecken ihr Leiden gut und arbeiten sogar in hohen Positionen", sagt Schillhuber.