Wenn die Braut dann klingelt …..

Heinz Franke ist Pfarrer in Buenos Aires

04. April 2011

Parlament und Kongressgebäude im Stadtteil Balvanera, Buenos Aires

Das Leben kann leicht sein in Argentinien. Über 300 Sonnentage pro Jahr und Menschen, die zu feiern wissen – nicht nur mit 1000-Gramm-Steaks und dem besten Rotwein der Welt. Hochzeiten zum Beispiel sind hier perfekt inszenierte Shows. Höhepunkt ist dabei das Aufrauschen der Braut. Umgeben von Kamerateam und Fotografen schreitet sie an der Seite ihres Vaters zum Altar, wo der Bräutigam sie in Empfang nimmt. Dass sie den Macho als Diva kontrolliert, bringt sie aber noch vorher zum Ausdruck, indem sie mit reichlich Verspätung einfliegt. 90 Minuten „Warten auf die Braut“ ist mein Rekord. Da das Pfarrhaus direkt neben der Kirche liegt, sage ich jetzt immer häufiger: „Klingelt kurz, wenn sie kommt. Ich komm’ dann auch...“

Beliebtes Einwanderungsland

Die Kirche der deutschen evangelischen Gemeinde Martínez, bei der ich Pfarrer bin, liegt in der sogenannten „zona norte“ von Buenos Aires, der Metropole, in dessen Ballungsraum zwölf ­Millionen Menschen leben. Es ist schön ruhig und grün am großen Fluss Río de la Plata. Unsere Kirche gehört zur deutschen ­Kongregation der argentinischen evangelischen La-Plata-Kirche. 1000 Mitglieder zählt sie, davon gut die Hälfte in Martínez.

Martínez ist eine klassische deutsche Gemeinde mit einem ganz typischen „Angebot“: Bastelkreise, Kirchenchor, Orchester, Orgelkonzerte, Seelsorgekreis und eine relativ große Zahl von Konfirmanden, immer um die 20 Jugendliche, die zum Teil von weit her kommen. Höhepunkt jedes Kurses ist eine zehntägige Konfirmandenfreizeit im Januar, also im Hochsommer, nach El Dorado, nahe den Wasserfällen von Iguazú. Dafür fahren wir schon mal über tausend Kilometer, aber das stört hier niemanden. Man ist das gewohnt. Die Entfernungen sind groß, das Land hat eine Ausdehnung wie von Gibraltar bis zum Ural.

Nach Argentinien gab es drei große Einwanderungswellen. Um 1880 und je nach den beiden Weltkriegen kamen aufgrund wirtschaftlicher Not vor allem Italiener und Spanier, aber auch Deutsche, unter ihnen viele Wolgadeutsche. Neben Kanada, Australien und den USA war Argentinien früher ein klassisches Auswandererziel. Das Land war damals noch reich und bot viele Möglichkeiten zum Existenzaufbau. Zu den Mitgliedern unserer Gemeinde gehören auch Kinder und Enkel der AEG-Ingenieure aus Berlin, die hier die erste U-Bahn auf der Südhalbkugel gebaut haben, die 1913 eingeweihte „Subte“. Dann kam die Weltwirtschaftskrise und bald die Nationalsozialisten in Deutschland – so sind die U-Bahn-Techniker in Argentinien geblieben. Bemerkenswert, dass selbst die Auswanderer des späten 19. Jahrhunderts über drei bis vier Generationen hinweg die deutsche Sprache bewahrt haben. In Buenos Aires, dem Schmelztiegel ehemals europäischer Auswanderer, haben sie sich so ihre Identität erhalten.

Spanisch im Vormarsch

Das ist aber nicht die Regel. Durch zunehmende Assimilation und Heirat mit Argentiniern ist der rein deutsche Sprachgebrauch langsam rückläufig. Vor circa 30 Jahren wurde deshalb auch in Martínez ein argentinischer Teil aufgebaut, den heute meine ­Kollegin Karin Krug betreut, Pastorin aus Paraguay. Die Gemeinde leistet sich mittlerweile zwei Gottesdienste an jedem Sonntag: um 10.00 Uhr auf Deutsch und um 11.15 Uhr auf Spanisch.

Es gibt bei uns Erwägungen, die spanische Sprache als Alltags- und die deutsche Sprache vor allem als „religiöse“ Sprache einzusetzen, also bei den Gottesdiensten zu verwenden. Das lässt sich aber bei Taufen, Trauungen oder Beerdigungen nicht durch­halten, weil die meisten Freunde und Verwandten kein oder zu wenig Deutsch können. Besondere Gottesdienste wie Konfirmation oder Silvester begehen meine Kollegin Karin und ich zu zweit und „bilingüe“: zweisprachig. Trauungen und Beerdigungen aber ­mache ich als EKD-Pastor ausschließlich auf Spanisch.

Harte Kontraste

Es könnte der Eindruck entstehen, es gehe hier recht idyllisch zu, vor allem, wenn ich noch erzähle, dass ich einmal am Tag im „parque anchorena“ joggen gehe – mit einem herrlichen Blick übers Wasser. An dieser Stelle ist der Río de la Plata, der Grenzfluss zwischen Argentinien und Uruguay, breit wie ein Meer: 50 Kilometer. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ­Buenos Aires ein ungeheuerliches Reich-Arm-Gefälle hat.

Das Stadtbild zeigt das deutlich. Auf der einen Seite die vor kurzem aufwendig renovierte Oper, das Teatro Colón: prachtvoller Marmor, edelste Stoffe, eine Akustik, die mit der Wiener Staatsoper und der Mailänder Scala mithält, sowie Eintrittspreise bis hin zu einem halben Monatsgehalt. Auf der anderen Seite die „Villas miserias“, die Slums, am Stadtrand, aber auch in den Nischen mitten im Stadtgebiet.

Ende vergangenen Jahres besetzten fast 6000 arme Menschen den „parque indoamericano“, ein Freigelände im Süden von ­Buenos Aires. „Diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben“ – so nennt man sie hier –, forderten von der Regierung billige Wohnungen und begannen, sich aus Wellblech und Pappe Unterkünfte zu basteln. „Indoamericano“ klingt übrigens noch ganz exotisch. Es handelt sich aber eher um eine Mischung aus Halbwelt und Niemandsland.

Die Menschen in solchen Gebieten leben in Seuchengefahr, es gibt kein sauberes Wasser und keine Abwasserbeseitigung. Viele junge Frauen sind schwanger, auch Vierzehnjährige, die Kleinkinder liegen auf Decken auf dem Boden. Es gibt giftige Spinnen, Schlangen und Ratten so groß wie Katzen. Die Menschen fischen Verwertbares aus dem Müll, den diese Stadt allein auf die Müllkippe am „Camino del Buen Ayre“ – dem Weg der guten Luft! – mit 14?000 Tonnen täglich ausspuckt.

Erlöse an Sozialprojekte

Die diakonische Arbeit unserer La-Plata-Kirche ist deshalb ­immens wichtig für Jugendliche „in Risiko“, wie es hier heißt. Drogen und Beschaffungskriminalität sind große Probleme. Mein früherer Kollege in Martínez, Pastor Sabino Ayala, hat am Rande des Ballungsraums von Buenos Aires eine eigene evangelische Gemeinde für sozial Schwache gegründet. Er versucht, Jugendlichen zum Schulabschluss und zur Berufsausbildung zu verhelfen. Unsere Gemeinde unterstützt diese Arbeit sowie die anderen ­Diakonieprojekte: Straßenkinderhilfe, Kinderbetreuungsheime, das Waisenhaus Baradero, 160 Kilometer nordwestlich von Buenos Aires, das jetzt Tagesheim ist. Unsere Erlöse zum Beispiel aus dem Weihnachtsbasar in Martínez gehen an diese Projekte.

Für die, denen es finanziell gutgeht, ist das Leben in Argen­tinien leicht.

Auch der Tod ist übrigens nicht ein solch schweres, mit Tabus besetztes Thema wie in Deutschland. Beerdigungen sind ganz das Gegenteil der Hochzeitsshows. Sie müssen innerhalb von 24 Stunden stattfinden. Anruf am Morgen, Trauergespräch eine halbe Stunde vor Beginn der Feier. Manchmal ist der Sarg bei Beginn noch gar nicht da, weil der Wagen im Stadtverkehr stecken­geblieben ist. Man fängt dann trotzdem irgendwie an, manchmal sprechen Angehörige und Freunde persönliche Worte. Ziemlich unverkrampft und authentisch. Alles Weitere improvisiert man sehr gekonnt. Das können sie hier in Argentinien.

Hochzeit im Sonnenuntergang

Ich musste das auch erst lernen. Einmal gab es die Topidee, eine Trauung bei Sonnenuntergang auf einer „estancia“ zu machen, einer Ranch auf dem Lande. Das ist hier in Mode: 400 Gäste, Gegrilltes, Livemusik, Tangoshow, Champagner, das kann auch schon mal ein Jahresgehalt kosten. Wir hatten aber vergessen, dass die Sonne hier recht schnell untergeht. Und nicht an die Zuspätkommerei von Bräuten gedacht. Mit der bald totalen ­Dunkelheit kam noch ein ungemütlicher Temperatursturz, ein kalter Fallwind fegte mir die Stichwortzettel davon. Das Brautpaar gab sich schließlich das Jawort vor schlotternden Gästen, schroff und schal beleuchtet von den Scheinwerfern des Kamera­teams. Danach ging’s schnell ins Haus, aufwärmen mit eiskaltem Champagner. The show must go on...