Kindergarten ohne Dach und Wände

Die Waldpädagogik in Deutschland boomt

26. März 2011

Waldkindergarten <Purzelbäume> im westfälischen Sprockhövel

Warm eingepackt in dicke Jacken, Hosen und Mützen stehen die Kinder im Kreis. Eigentlich gibt es jetzt immer letzte Anweisungen für ihren Weg in den Wald. Doch an diesem Morgen hält Erzieherin Gabriele Romich ein Plakat hoch. Darauf ist ein kleines Männchen zu sehen, das, umgeben von Tieren, Früchten und Blättern in einer Baumkrone tanzt. Es ist das Logo zum "Internationalen Jahr der Wälder 2011", das in Deutschland am 21. März eröffnet wird. Das Logo kennen die Kinder zwar noch nicht. Was es bedeutet, ist ihnen aber sofort klar.

"Der Mensch steht in der Mitte, weil er den Wald braucht", sagt die fünfjährige Jule. "Zum Klettern und Spielen", ergänzt der vierjährige Cedric und zerrt ungeduldig an seinem Rucksack. Er möchte endlich aufbrechen. Denn dass der Wald auch die Luft zum Atmen gibt, dass er Material für Häuser und Möbel liefert und Tieren, Pflanzen und Menschen Schutz und Erholung bietet, weiß er längst. Schließlich verbringt Cedric gemeinsam mit 19 anderen Kindern des Waldkindergartens "Purzelbäume" im westfälischen Sprockhövel jeden Tag in der freien Natur.

Der Name der Kita ist für die Kinder Programm. Bevor sie in einer kleinen Waldlichtung auf Baumstämme klettern, Insekten beobachten und Hütten bauen, besuchen sie Purzel. Der kleine, unsichtbare Zwerg lebt in der Höhle eines Baumes. Und es lohnt sich immer, einen Blick hineinzuwerfen. "Manchmal liegen dort Briefe für uns", erzählt der vierjährige David. "Dann erklärt Purzel uns, wie die Ameisen arbeiten oder wie Vögel ein Nest bauen." Doch nicht nur das begeistert die Kinder. "Er hat uns allen Namen gegeben", sagt die fünfjährige Jule. Sie heißt "Pfiffige Waldameise". Ihre Freundin ist "Verträumte Nachtigall".

Rund 1.400 Waldkitas gibt es nach Schätzungen des Bundesverbandes der Natur- und Waldkindergärten derzeit in der Bundesrepublik. Von Skandinavien kam die Idee, Kinder mindestens vier Stunden täglich in der Natur spielen und forschen zu lassen, bereits Ende der 60er Jahre nach Deutschland. Der erste Waldkindergarten mit staatlicher Anerkennung startete 1993 im schleswig-holsteinischen Flensburg und löste eine Gründungswelle aus.

Deutschland eigne sich besonders gut für die Naturpädagogik, meint die Vorsitzende des Bundesverbands, Ute Schulte Ostermann. "Immerhin besteht ein Drittel der Fläche unseres Landes aus Wald." Die meisten Kitas werden von Elterninitiativen oder kleinen Vereinen getragen, aber auch große Sozialverbände wie die Diakonie oder die Arbeiterwohlfahrt setzen zunehmend auf das pädagogische Konzept des Spielens in freier Natur. Schließlich hätten Studien gezeigt, sagt Ute Schulte Ostermann, dass die "Waldkinder" nicht nur gesünder, sondern oft auch aufmerksamer und sozial kompetenter seien als Kinder aus sogenannten "Hauskitas".

Eine Beobachtung, die Gabriele Romich bestätigen kann. Die 44-jährige Erzieherin leitet die Kita, die im vergangenen Jahr bereits zehn Jahre alt geworden ist und aus einer Gruppe mit rund zwanzig Kindern und drei Erzieherinnen besteht. "Unsere Kinder müssen sich im Wald an klare Regeln halten." So dürfe kein Kind alleine unterwegs sein, es müsse immer Antwort geben, wenn nach ihm gerufen werde. Bäume und Pflanzen dürften nicht beschädigt, Tiere nicht erschreckt und Früchte nicht einfach gegessen werden, weil sie giftig sein könnten.

Als Spielzeug im Wald dienen Blätter, Stöcke oder Steine. Wenn der vierjährige Cedric und sein Freund David ein Haus aus Ästen und Blättern bauen, reden sie viel dabei und machen laute Säge- und Hammer-Geräusche. Im Wald stört das niemanden. Im Gegenteil. "Unsere Kinder erleben sich selbst als aktiv und kreativ", erklärt die Erzieherin. "Das macht sie ausgeglichen und stärkt ihr Selbstbewusstsein."

Sorgen, dass die Kinder später Probleme in der Schule bekommen, wenn sie viel sitzen und schreiben müssen, haben weder die Erzieherinnen noch die Eltern des Waldkindergartens "Purzelbäume". "Die Fähigkeiten, die meine Tochter Rike braucht, bekommt sie hier alle mit", meint Christine Kalthaus. "Sie lernt, sich auf eine Sache zu konzentrieren, sich mitzuteilen und Rücksicht zu nehmen." Die Erfahrung von Weite, Ursprünglichkeit und Freiheit werde sie das ganze spätere Leben positiv prägen, hofft die Mutter.

Als Christine Kalthaus ihre Tochter nach vier Stunden in der freien Natur wieder mit nach Hause nimmt, erzählt Rike begeistert von Purzel, Vogelnestern, Eichhörnchen und Schlangen. Die haben die Kinder nämlich im Sommer an einem Baum entdeckt. "Leider sind sie noch nicht zurückgekommen", sagt sie. "Aber wenn sie wieder da sind, dann mache ich ein Foto." (epd)