Strafe ist tabu

"No-Blame-Ansatz" gegen Mobbing unter Schülern - Mobber werden in Suche nach Lösungen einbezogen

19. Februar 2011

Jugendliche mit dem Kopf zwischen Knien

Berlin (epd). Eva Diem handelt schnell. Als die Lehrerin die Viertklässlerin wieder heulend auf dem Pausenhof findet, nimmt sie das Mädchen ins Lehrerzimmer mit. "Keiner mag mich", sagt es dort. Im Gespräch mit den Klassenkameraden findet die Lehrerin heraus, warum einige von ihnen das Mädchen ausgrenzen. Sie führt die Kinder zusammen. "Wenn du mich immer so auf die Schulter pikst, ärgert mich das so, dass ich dich nicht in der Mannschaft haben will", sagt ein Mitschüler. Danach darf die Zehnjährige wieder mitspielen.

Nicht alle Mobbingfälle sind so schnell zu lösen. Nicht immer spalten nur Kleinigkeiten die Klassengemeinschaft. Der "No-Blame-Ansatz", ein von den Briten Barbara Maines und George Robinson entwickeltes pädagogisches Konzept, betrachtet Mobbing als Teil eines komplexen Systems, in dem alle Beteiligten verschiedene Rollen spielen.

"No blame" heißt "keine Beschuldigung". Ziel ist nicht, einen Schuldigen zu finden und zu bestrafen, sondern alle - Mobber, Mitläufer und Zuschauer - einzubeziehen in die Suche nach einer Lösung: Was kann getan werden, damit es dem Schikanierten bessergeht?

Mobbing ist nicht neu. In den 80er Jahren bezog sich der Begriff allerdings zunächst auf die Arbeitswelt. Im englischsprachigen Raum wird von "bullying" (Einschüchterung) gesprochen. Mit Cyberbullying wird neuerdings das Bedrohen und Ausgrenzen im Internet bezeichnet. In der Schule seien die psychischen und physischen Attacken gegen Mitschüler sowie das Zerstören ihres Eigentums "erschreckend" häufig, haben die Kölner Mediatoren Heike Blum und Detlef Beck festgestellt. Jeder siebte Schüler sehe sich solchen Angriffen ausgesetzt.

Wenn allerdings auf Mobbing Schulkonferenzen und Strafen folgen, verstärkt sich das Problem häufig noch. Deshalb interessieren sich in Deutschland Schulen, Pädagogen und Polizei zunehmend für andersartige Konzepte. Die Konflikttrainer Blum und Beck haben jüngst ein Praxishandbuch zum "No Blame Approach" veröffentlicht. In rund 85 Prozent der Fälle funktioniere das Konzept, sagen die Autoren und stützen sich dabei auf eine Untersuchung an verschiedenen Schulen.

Das Konzept sieht vor, das Mobbing in einem dreistufigen Prozess zu stoppen. Zuerst spricht der Lehrer oder Sozialpädagoge mit dem gemobbten Kind, um die Situation zu klären und Hilfe anzubieten. Dabei versucht er herauszufinden, welche Klassenkameraden das Kind aktiv drangsalieren, welche Beifall klatschen und welche sich heraushalten.

Mit einigen dieser Kinder folgt ein gemeinsames Gespräch. Hier geht es nicht um Schuld, sondern darum, Ideen zu sammeln, wie dem betroffenen Mitschüler zu helfen sei. "Die Ideen kommen in der Regel zunächst von den sogenannten 'neutralen' Schülern und Schülerinnen", heißt es im Praxishandbuch. Etwa: "Ich hole X von zu Hause ab und gehe mit ihr zur Schule." Aber auch die Mobber selber unterbreiten Vorschläge wie "Dann lasse ich ihn eben in Ruhe" oder "Ich kann ja mal morgens 'Hallo' sagen".

"Die Mobber sind nicht hauptberuflich Mobber", ist Beck überzeugt: "Durch eine gute Ansprache kann man sie für ein anderes Verhalten gewinnen." In einem dritten Schritt führt der Lehrer einzelne Gespräche mit den beteiligten Schülern, um herauszufinden, inwieweit sich die Situation verbessert hat.

"Die Methode ist einleuchtend", sagt Eva Diem, Konrektorin der Schule Neuenstein in Baden-Württemberg. Seit einigen Jahren wende sie den "No Blame Approach" an, um die Mobbingfälle an ihrer Schule - etwa zwei im Monat - zu lösen. So griff sie ein, als eine kleingewachsene Zweitklässlerin im Schulbus von zwei großen Viertklässlerinnen geärgert wurde. Diese setzten sich immer wieder hinter sie und schlugen gegen den Sitz. Die Mutter sprach die beiden an - und schaltete die Polizei ein, weil sie sich respektlos behandelt fühlte.

Als Eva Diem die "Großen" zum Gespräch bat, fielen die beiden aus allen Wolken. Sie hatten sich nicht als Täterinnen empfunden, sondern Spaß haben wollen. Es habe einige Wochen gedauert, erzählt die Konrektorin, bis die Mädchen von selbst auf die Idee kamen, sich im Bus neben die Zweitklässlerin zu setzen. Sie wollten sich mit ihr unterhalten, statt von hinten gegen den Sitz zu treten. Das ist das Prinzip des Ansatzes: der Lehrer gibt keine Lösungen vor.

"Die Schüler müssen nicht gute Freunde werden", sagt Detlef Beck. "Aber die Situation für den Betroffenen soll sich verbessern. Und die Klassengemeinschaft." Bei den Grundschülern erreiche man "schnell eine emotionale Ebene" und könne einen Rollenwechsel bewirken, erzählt Diem. "Wenn die Kinder älter und abgebrühter sind, und das Mobbing schon länger anhält, wird es schwieriger." Für solche Fälle gibt es andere Methoden, die den Mobber mehr mit seinem Fehlverhalten konfrontieren. "Hauptsache, das Mobbing hört auf", sagt Beck.

(epd)