"Wenn die Tür zugeht, fängt das Grübeln an"

Telefonseelsorge für Gefangene soll Suizide verhindern

08. Februar 2011

Telefonseelsorge für Gefangene soll Suizide verhindern

Das Telefon bleibt stumm. Nachdenklich betrachtet Stefan K. (Name geändert) den Apparat an der kahlen Wand der achteinhalb Quadratmeter großen Zelle in Haus 5 der Justizvollzugsanstalt (JVA) Hannover. Auf diesem Gerät kann ihn niemand erreichen, zu Familie und Freunden stellt es keine Verbindung her. Dennoch lässt es den 21-Jährigen in seiner ersten Nacht in Untersuchungshaft nicht allein. Nimmt er den Hörer ab, meldet sich die Stimme eines Gefängnisseelsorgers.

Seit einem Jahr versucht das niedersächsische Justizministerium mit diesem bundesweit einzigartigen Pilotprojekt, die Zahl der Selbsttötungen in Gefängnissen zu vermindern. Das Konzept: Untersuchungshäftlinge können nachts per Telefon Kontakt mit Gefängnisseelsorgern aufnehmen und über ihre Sorgen reden.

Die ersten Tage in U-Haft sind für viele Gefangenen hart. Vor allem dann, wenn sie wie Stefan K. zum ersten Mal hinter Gittern sind. "Sobald sich die Tür schließt, fängt das Grübeln an", sagt Matthias Bormann. Der Leiter der JVA Hannover weiß, dass mit der belastenden Situation auch die Suizidgefahr steigt: "Einige Gefangene sehen keine Perspektive mehr".

Häftlinge haben nach Angaben des Justizministeriums ein bis zu sechsfach höheres Risiko sich umzubringen als Nichtinhaftierte. Mehr als die Hälfte der Suizide werden von Gefangenen in der U-Haft und zu Beginn der Haftzeit begangen. In Hannover nimmt sich jedes Jahr durchschnittlich einer der insgesamt rund 821 Inhaftierten das Leben, sagt Bormann: "Diese Momente sind für alle hart."

Während Stefan K. nachts in seiner Zelle grübelt, klingelt bei Kathrin-Susann Winters das Telefon. "Ich wollte nur wissen, ob wirklich jemand rangeht", sagt der Unbekannte. Er legt auf. Sie ist hellwach. "Es ist schwer, direkt nach einem Gespräch wieder einzuschlafen", sagt die evangelische Pastorin aus Hannover. Als eine von 25 christlichen Seelsorgern begleitet sie das deutschlandweit einzigartige Telefonprojekt. Auch muslimische Gefangene nehmen das Angebot wahr.

Am schwersten war die erste Nacht, erzählt Winters. Sie habe die Zeit mit Bügeln statt mit Schlafen verbracht - aus Angst, einen Anruf zu verpassen. Die Anrufe erreichen die Gefängnisseelsorger auf ihrem Privatanschluss aus insgesamt vier Haftanstalten.

In 100 Hafträumen der Justizvollzugsanstalten Braunschweig, Oldenburg, Hannover und Rosdorf bei Göttingen hängen mittlerweile Telefone. In Hannover sind alle Hafträume in Haus 5, wie die Aufnahmeabteilung heißt, mit den Geräten ausgestattet. Innerhalb der ersten 14 Tage können die Gefangenen zwischen 21 und 6 Uhr anonym mit einem Seelsorger telefonieren. "Diese Gespräche sind sehr persönlich", sagt Bormann. "Alle Seelsorger unterliegen der Schweigepflicht."

"Dabei kommt wirklich alles zur Sprache", sagt Winters. "Ich kann nicht mehr, rufen Sie meine Frau an, ich brauche Zigaretten, mir ist langweilig" - diese Sätze haben auch ihre Kollegen schon oft gehört.

Das Justizministerium hat ein erstes positives Echo auf das Projekt verzeichnet. Deshalb solle es bald auf weitere Haftanstalten ausgeweitet werden. Auch aus anderen Bundesländern liegen Anfragen vor.

An Suizid denkt Stefan K. nicht. Eher an den Urlaub in Skandinavien, den er aufgrund der Anklage wegen Körperverletzung und Fahrens ohne Führerschein gerade verpasst. Zum Telefon an der Wand habe er bisher nicht gegriffen. "Ich denke immer positiv." Nach kurzem Überlegen fügt er hinzu: "Es ist trotzdem ein beruhigendes Gefühl, nicht allein zu sein."

(epd)