„Zum ersten Mal im Leben fühlte ich mich frei und angenommen“

Alljährlich wird auch im Fußball der Opfer des Holocausts gedacht – ein Überlebender erinnert sich

25. Januar 2011

Ernst Grube

Die Idee zum „Erinnerungstag im deutschen Fußball“ stammt aus Italien. Seit 2004 wird dort durch die aktiven Fußballspieler der Serie A und B gegen Rassismus und Antisemitismus demonstriert. Gottesdienstbesucher der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau griffen diese Idee auf. In einem Brief an die Verantwortlichen der Deutschen Fußball-Liga (DFL) und des Deutsche Fußballbunds (DFB) regten Sie eine vergleichbare Aktion in Deutschland an.

Seit dem Holocaustgedenktag 2005 erinnert die DFL zusammen mit den Clubs bundesweit bis in die Regionalligen an die Verfolgten und Ermordeten der Nazidiktatur. Am kommenden Spieltag wird bereits zum siebten Mal ein Text als offizielle Erklärung in den Stadien vieler Fußballvereine verlesen, der von der Versöhnungskirche, dem deutsch-jüdischen Sportverein Maccabie München und der Fan-Initiative „Löwenfans gegen Rechts“ vorgeschlagen wird.

Der Münchner Ernst Grube war von Februar bis 8. Mai 1945 als 12jähriger zusammen mit seinen beiden Geschwistern und seiner Mutter Häftling im ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt (heute Tschechien). Nach seiner Befreiung spielte er von 1947 bis 1951 in den Jugendmannschaften von TSV München von 1860 und Helios München als linker Verteidiger. Im Interview erzählt er Diakon Eberhard Schulz, wie wichtig ihm damals der Fußball war. Aber er berichtet auch von seinem Erschrecken, dass 66 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Fußballfans menschenverachtende Parolen ihrem sportlichen Gegner entgegen brüllen.

Eberhard Schulz: Ernst Grube, nach deiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt durch Soldaten der Roten Armee bist Du zu den »Sechzigern« gegangen.

Ernst Grube: Der TSV München von 1860 war damals ein richtiger Arbeitersportverein. Ich fand das gut, und da wollte ich hin. Fußballspielen war für meine Altersgenossen und mich die Freizeitbeschäftigung schlechthin. Für mich persönlich bedeutete das Fußballspielen im Verein, dass ich gleichberechtigt war und akzeptiert wurde. Das war für mich ein ganz neues Gefühl. In der Nazizeit erlebte ich fast nur Ausgrenzung. Ich durfte weder in die Schule gehen, noch in einem Verein Fußball spielen.

Eberhard Schulz: Als Du dann von Theresienstadt nach München zurückgekommen bist und gekickt hast, wie war das für Dich nach Ausgrenzung und Diskriminierung?

Ernst Grube: Unglaublich schön. Ich habe mich zum ersten Mal in meinem Leben frei und von Gleichaltrigen angenommen gefühlt. »Elf Freunde sollt ihr sein! « Das hört sich heute altmodisch an. Für mich war der Satz klasse. Ich habe ihn aufgesogen und gelebt. Für mich war der Teamgeist in meiner Mannschaft gut für meine Seele und aus diesem Grund habe ich auch besser gespielt.

Eberhard Schulz: Rechtsradikale und Neonazis melden sich wieder stärker in den Stadien und um die Fußballplätze herum zu Wort. Sie treten als Biedermänner in Vereine ein oder gründen neue und verbreiten dort ihre Botschaften. Und öffentlich zeigen sie sich auch.

Ernst Grube: Ja, ich bekomme das eins-zu-eins mit. Da wird gesungen „Auschwitz ist eure Heimat. Eure Häuser sind die Öfen.“ – „Wir bauen euch eine U-Bahn bis nach Auschwitz.“ Diese Sprüche machen mich erst mal fassungslos. Das ist schockierend. Ich will nicht wahrhaben, dass 66 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Fußballfans diese menschenverachtenden Parolen ihrem sportlichen Gegner entgegen brüllen. Es macht mich vor allem aber auch traurig. Es erinnert mich an meine Kindheit. Als jüdisches Kind wurde ich von Gleichaltrigen und Älteren ausgegrenzt und als „Judensau“ beschimpft. Aber dann kommt in mir eine starke Wut hoch. Diese menschenverachtenden Parolen, die teilweise da im Stadion gebrüllt werden, dem muss etwas entgegengesetzt werden, von den Vereinen, von den Fußball-Verbänden, von der Politik, von den Fans. Am besten wäre es, die echten Fans würden sich dagegen zur Wehr setzen. Und auch die Vereinsbosse.

Eberhard Schulz: Hast Du Vorschläge?

Ernst Grube: Wenn Fangruppen rassistische Parolen brüllen, zum Beispiel gegen afrikanische Spieler der gegnerischen Mannschaft, dann muss der Schiedsrichter oder der Stadionsprecher sich einmischen. Er muss sich diese Provokationen im Namen seines Vereins verbitten und die Zuschauer auffordern, diesen Sprechchören ein Pfeifkonzert entgegen zu setzen. Es gibt auch die Möglichkeit, dass der Schiedsrichter das Spiel unterbricht, die beiden Spielführer zu sich bittet und ihnen mitteilt, er werde das Spiel abbrechen, wenn die diskriminierenden Parolen nicht gestoppt werden. Ich glaube, das hat der DFB in seinem Schiedsrichter-Regelwerk jetzt so festgelegt.

Eberhard Schulz: Macht es für Dich Sinn, wenn vor einem Fußballspiel oder in der Halbzeitpause der Stadionsprecher die Fans anspricht und sie auffordert, der Opfer der Nazidiktatur zu gedenken und sich heute gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zur Wehr zu setzen?

Ernst Grube: Natürlich macht es Sinn. Wir erleben heute einen zunehmenden Rassismus. Dieser speist sich unter anderem aus der Gewalt. Gewalt erleben wir leider immer wieder in den Fußballstadien. Sie richtet sich meist gegen den sportlichen Gegner, aber vor allem gegen Menschen, die aus anderen Kulturkreisen kommen – wir erleben vermehrt Intoleranz. Hier hat das Erinnern an die Verbrechen der Nazis – an das billigende Verhalten der meisten Bürger – eine große und wichtige Bedeutung. Wir müssen jeder Form von Gewalt, Intoleranz und Rassismus, in welcher Form auch immer, entgegentreten.