Erntebilanz: Lebensglück

Erntedank auch Anlass zum Be-Sinnen

30. September 2010

Korb mit Obst und Sonnenblume

Alljährlich wiederholt sich ein spätsommerliches Ritual: Agrarexperten treten vor die Presse, um Bilanz über die eingefahrene Ernte zu ziehen: bei uns, im nationalen Bewertungsrahmen, auf EU-Ebene aber auch international. Von den Ergebnissen werden dann die Auswirkungen auf die globalen Agrarmärkte abgeschätzt: die Preiserlöse für die Bauern, die Handelsspannen für die Agrar- und Ernährungswirtschaft, die Verbraucherpreise für uns Konsumenten.

Vielleicht sollte unsere Gesellschaft auch einmal ihre Erntebilanz ziehen. Nicht als Messung von Wirtschaftsleistungen, sondern als Glücksbilanz über die Zufriedenheit der Bevölkerung in Familie, Beruf, Ehrenamt und auch ganz persönlich - eben mit dem tagtäglichen Leben. Schnell würde sich herausstellen, dass finanzieller Erfolg und materieller Wohlstand als vermeintliche Erntefrüchte eines Lebensjahres zwar willkommen sind, aber innerlich kein Glück verschaffen.

Darin liegt die Problematik unseres Systems unendlichen Wirtschaftswachstums zur Wohlstandsvermehrung. In Zeiten von Knappheit an Gütern, wie nach dem Zweiten Weltkrieg bei uns oder in den Entwicklungsländern heute, werden Versorgungsmängel durch rasches Wachstum dank technischen Fortschritts behoben. Der Wohlstand wächst. Oftmals auf Kosten der Umwelt und sozialer Gerechtigkeit. Wenn in kürzester Zeit möglichst viel produziert wird, ob Lebensmittel oder Konsumgüter, sind Wasser- und Klimaschutz, der Umgang mit Boden und Tieren - und nicht zuletzt das Wohl der Menschen, ob Bauern oder Arbeiter, nicht von Belang. „Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten“ nennt das die Volkswirtschaftslehre.

Solange die Ressourcen im Überfluss vorhanden sind und das Wissen um Ausbeutung, Kinderarbeit und Lohndumping wenig verbreitet, rollt die Wachstumsmaschinerie mit ihrer eigenen Logik des immer Mehr, Schneller, Höher, Weiter, Größer oder Tiefer voran. Ab einem bestimmten gesättigten Bedarf an Essen, Trinken, Wohnen, Kleidung und Mobilität setzen dann kommerzielle Bedürfnisweckung und materielle Glücksversprechen ein. Wir konsumieren an unserem Bedarf vorbei. Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, von Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen. Das schafft kein Glück, nicht einmal Zufriedenheit, sondern höchstens oberflächliche Befriedigung und Abwechslung.

Das System permanenter quantitativer Wachstumslogik kennt weder Maß noch Ziel. Ein begrenzendes und innerlich befreiendes „Es ist genug!“ täte Not. Oder, wie es der Träger des Wirtschaftsnobelpreises Paul Samuelson sagt: „Der Markt hat kein Herz, der Markt hat kein Gehirn“. Der Markt kümmert sich weder um Gerechtigkeit oder Zufriedenheit, sondern er ist in sich ungerecht, krisenanfällig und sogar destruktiv, wie man in den letzten Jahren an den Finanz- und Immobilienblasen sehen konnte. Der vermeintliche individuelle Zuwachs an Glücksempfinden durch Ansammlung von Reichtum und Gütern kommt an eine Grenze, wo „es reicht“. Er kehrt sich sogar ins Gegenteil, wenn der dafür gezahlte Preis, auf Kosten der Umwelt und mitmenschlicher Beziehungen, Sicherheit, Geborgenheit, Heimatbindung und Vertrauen geht - eben was man gemeinhin „Lebensqualität“ nennt.

Es braucht eine Begrenzung des „too much“ (zuviel) auf ein gesundes Augenmaß: ob beim Essen (Stichwort: XXL-Mahlzeiten), beim Trinken (Stichwort: Flatrate-Saufen), bei der Unterhaltung (Stichwort: TV-hopping), bei der Tierhaltung (Stichwort: industrielle Massentierhaltung), bei den Abfindungen (Stichwort: Managergehälter), bei der Information(Stichwort: Mailflut), selbst bei der politischen Provokation (Stichwort: Sarrazin). Unser Leben ist durchzogen von einer Ansammlung der Grenzüberschreitungen des „zuviel“. Eine Balance muss gefunden werden, in der die Werte der Wirtschaft und Politik mit Lebenswerten unserer Gesellschaft wieder zueinander finden.

So gesehen kann Erntedank auch Anlass zum Be-Sinnen unserer eigenen Lebensbilanz der Zufriedenheit sein: Darüber nachzudenken, ob unser „modern way of life“ in die richtige Richtung führt - nicht im Interesse einer Wachstumslogik, sondern wahren Lebensglücks.