Sinnstifter und erster Vertreter des Volkes

Der Bundespräsident wirkt vor allem durch die Macht des Wortes

28. Juni 2010

Standarte am Dienstwagen des Bundespräsidenten

Auf eine Bundespräsidentin müssen die Deutschen aller Wahrscheinlichkeit nach weiter warten, auch das zehnte Staatsoberhaupt seit 1949 wird voraussichtlich ein Mann sein. Nach dem überraschenden Rücktritt von Horst Köhler wurde kurze Zeit Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) als Favoritin für das höchste Staatsamt gehandelt. Doch die populäre Politikerin kam nicht zum Zuge. Union und FDP nominierten den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff (CDU) für die Wahl Mittwoch. SPD und Grüne schicken den früheren DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck ins Rennen. Als Außenseiterin ohne realistische Chancen tritt die Kandidatin der Linken, die Journalistin Luc Jochimsen (74), an.

Der 51-jährige Wulff wäre im Falle seiner Wahl durch die Bundesversammlung der jüngste Amtsinhaber und der zweite Katholik im höchsten Staatsamt. Der 70-jährige evangelische Theologe Gauck, der einer breiten Öffentlichkeit nach der deutschen Vereinigung als Bundesbeauftragter für die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit bekannt wurde, wäre das erste Staatsoberhaupt aus Ostdeutschland. Obwohl der parteilose Gauck beträchtliche Sympathien auch im bürgerlichen Lager genießt, gilt die Wahl Wulffs als wahrscheinlich, da die Regierungsparteien eine klare Mehrheit in der Bundesversammlung haben.

Die Erwartungen an den Amtsinhaber sind hoch: "Vorbild und erster Vertreter des Volkes" müsse er sein, postuliert Altbundespräsident Walter Scheel (1974-1979). "Wir wollen den Sinnstifter der Nation, der uns sagt, wo es langgeht, der eine moralische Schneise durch Kleingeist und Eigennutz schlägt", so der Publizist Josef Joffe in ironischer Überzeichnung. Ob es ein Politprofi sein sollte, wie fast alle der neun bisherigen Präsidenten, oder eher ein Seiteneinsteiger mit breitem gesellschaftlichen Rückhalt - diese Debatte flammte nach dem Rücktritt Köhlers am 31. Mai und der Nominierung der Kandidaten von Koalition und Opposition wieder auf.

Der Bundespräsident hat gemäß Grundgesetz nur geringe Machtbefugnisse, genießt aber traditionell hohes Ansehen bei den Deutschen. Mit der Rolle eines "Staatsnotars", der Gesetze ausfertigt und den Ministern ihre Ernennungsurkunden überreicht, begnügten sich die Amtsinhaber - von Theodor Heuss bis Horst Köhler - nicht. Sie alle nutzten die Möglichkeiten des Amtes auf ihre Weise. Es ist vor allem die Macht der Rede, die dem ersten Mann im Staate zur Verfügung steht, um in gesellschaftliche Debatten einzugreifen oder das politische Klima zu beeinflussen.

"Er handelt nicht, aber er denkt laut." So beschrieb Theodor Heuss den Einfluss des Bundespräsidenten. Die schwache Machtstellung des Staatsoberhaupts im Verfassungssystem der Bundesrepublik ist eine Lehre aus der gescheiterten Weimarer Republik. Einen direkt vom Volk gewählten "Ersatzkaiser" sollte es nach dem Willen des Parlamentarischen Rates nicht mehr geben. Heuss erwies sich als erster Bundespräsident (1949-1959) als Glücksfall für die junge Demokratie. Der schwäbische Liberale, mehr Intellektueller als Politiker, trug nach dem Krieg dazu bei, im Ausland verlorenes Vertrauen für sein Land zurückzugewinnen.

Zu den Bundespräsidenten, die das Instrument der Rede in hervorragender Weise zu nutzen verstanden, zählt Richard von Weizsäcker (1984-1994). 40 Jahre nach Kriegsende plädierte er in seiner Rede zum 8. Mai 1945 für einen neuen Umgang mit der NS-Vergangenheit und stellte klar: "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung." Auch Roman Herzog (1994-1999) fand mit seiner "Ruck-Rede" vom 26. April 1997, in der er zur Überwindung verkrusteter Strukturen aufrief, ein großes Echo.

Die Wahl des Staatsoberhaupts ist stets auch vom politischen Kalkül der Parteien bestimmt - und von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen in der Bundesversammlung abhängig. So war die Wahl des Sozialdemokraten Gustav Heinemann (1969-1974) in der Endphase der Großen Koalition 1969 mit den Stimmen von SPD und FDP auch ein Vorbote der noch im selben Jahr gebildeten sozialliberalen Koalition - "ein Stück Machtwechsel", wie Heinemann selbst sagte.

Die meisten Bundespräsidenten hatten vor ihrer Wahl hohe politische Ämter inne. Der frühere FDP-Vorsitzende Scheel war zuvor Außenminister und Vizekanzler im Kabinett von Willy Brandt. Karl Carstens (1979-1984) war Bundestagspräsident, davor Fraktionsvorsitzender von CDU/CSU im Bundestag. Der Christdemokrat Herzog war Präsident des Bundesverfassungsgerichts und damit höchster deutscher Richter. Johannes Rau (1999-2004) war langjähriger Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen und trat bei der Bundestagswahl 1987 als Kanzlerkandidat für die SPD an. Mit einer Ausnahme waren alle bisherigen Bundespräsidenten evangelisch, nur der Sauerländer Heinrich Lübke (1959-1969) war Katholik.

Frauen blieb das höchste Staatsamt bislang versagt. Häufig wurden sie als "Zählkandidatin" ins Rennen geschickt, ohne Aussicht auf eine Mehrheit. So erging es beispielsweise der Sozialdemokratin Annemarie Renger (1979 gegen Carstens), der Liberalen Hildegard Hamm-Brücher (1994 gegen Herzog) und der von der Union nominierten Physikerin Dagmar Schipanski (1999 gegen Rau). Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan (SPD) trat sogar zweimal gegen Horst Köhler an und unterlag beide Male (2004 und 2009). (epd)