Lasst die Armen doch einfach aussterben!

Es gibt zu viele arme Kinder in Deutschland. Und es werden täglich mehr

18. Juni 2010

Obdachloser schläft auf der Straße

„Wir brauchen dringend eine sachliche Diskussion über Ziele und Erfolge der Armutsbekämpfung in Deutschland. Es geht eben nicht nur um Hunger, es geht um gesellschaftliche Teilhabe“, betont der amtierende Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Nikolaus Schneider.

„Wir vernachlässigen Menschen in ihrer eigenen Entwicklung und wundern uns dann, dass sie immer weiter abrutschen und nicht mehr zu motivieren sind“, sagt Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD. „Wer den Absturz in die Armut befürchtet, verliert durch die Angst schon ein Stück Gesundheit, Gelassenheit und Lebensglück.“ Und weiter führt er zum Thema aus:

„Seit gut zehn Jahren wächst die Armut in Deutschland: von 1999 bis 2008 um 37 Prozent. Das SGB II drängt die Menschen zwar in Arbeit, so dass die Arbeitslosigkeit sinkt - aber sie entkommen dort nicht der Armut. Der Niedriglohnsektor ist mittlerweile fast so groß wie in den USA. Real haben die untersten zehn Prozent der Einkommenspyramide in der letzten Dekade deutliche Verluste hinnehmen müssen.

Was bei dem allem am schnellsten wächst und am skandalösesten ist, ist die Kinderarmut. Es gibt zu viele arme Kinder in Deutschland. Und sie werden täglich mehr: Während die wohlhabenden Kreise trotz aller Anstrengungen der Politik immer weniger Kinder bekommen, ist das bei den Armen nicht der Fall. Gut so, könnte man sagen. Wenigstens sie erfüllen ihre "demografische Pflicht" und sorgen dafür, dass Deutschland nicht noch schneller ausstirbt. Und das auch noch angesichts der Tatsache, dass man sich im SGB II mit der Gründung einer Ehe ohnehin nur selbst bestraft.

Nicht so jedoch die Bundesregierung. Hier scheint man es für nötig zu halten, die Reproduktion generell stoppen zu sollen. Wie anders soll man die Abschaffung des Elterngeldes für SGB-II-Empfänger verstehen? Bisher wurden 300 Euro für zwölf Monate gezahlt, das fällt nun ersatzlos weg. Diese Maßnahme hatte im Jahr 2007 einen Vorlauf. Damals wurde die Bezugszeit des Erziehungsgeldes, das für SGB-Empfänger 300 Euro für 24 Monate sicherte, halbiert. Man brauchte das Geld für die Finanzierung des Elterngeldes der Wohlhabenderen. Es fand eine Umverteilung von unten nach oben statt. Offensichtlich gibt es Kinder erster und zweiter Wahl.

Arme Kinder braucht es nicht. Immerhin gibt es noch den Kinderzuschlag. Aber durch dessen Regelungen blickt niemand durch.

Es ist noch gar nicht lange her, da wurde anders geredet. Aus SGB-II-Kindern müssten Ingenieure werden, so hieß es. Und deswegen müsste man genau in diese Kinder investieren. Die alte Parole aus den 1960er Jahren von der "Hebung der Begabungsreserven" klang angesichts der demografischen Krise wieder durch.

Und tatsächlich: Jedes Kind wird schon in wenigen Jahren tatsächlich auf den Arbeitsmärkten gebraucht und verdient deswegen alle Aufmerksamkeit. Es bräuchte mehr Unterstützung der Familien und gezielte kompensatorische Förderung in Kindergarten und Schule. Diejenigen, die Leistung bringen könnten, sollten gefördert werden und nicht die, die sich Förderung leisten könnten. Solch ein Projekt wäre mit mehr Chancen für alle und mehr Gleichheit in der Gesellschaft verbunden.

Was nun geschieht, ist das Eingeständnis, dass eine wirklich teilhabefördernde Strategie von der Bundesregierung nicht verfolgt wird. Es ist die Kapitulation vor der Armut. Die Hoffnung scheint tatsächlich zu sein, die Armen mögen doch bitteschön aussterben. Die Armenpolitik des 19. Jahrhunderts feiert fröhliche Urständ. Margot Käßmann hat Recht: Gegen diese Politik ist Widerstand berechtigt.“

Am Freitag, 25. Juni, veranstaltet die EKD mit ihrem Sozialwissenschaftlichen Institut (SI) und mit Unterstützung von Diakonie, Caritas und der Evangelischen Akademie zu Berlin einen Aktionstag unter dem Motto „Einladen statt abhängen – kirchliches Netzwerk unterwegs gegen Armut und Ausgrenzung“. Experten aus der Praxis und Wissenschaftler geben Einblick in neuste Erfahrungen und Forschungsergebnisse. Sie diskutieren mit Vertretern von Kirchengemeinden, Caritas, Diakonie, sozialen Netzwerken und Politik. Achtzehn Standortprojekte aus ganz Deutschland stellen ihre Arbeit und Angebote vor, die sie für Bewohner in sozialen Brennpunkten und Quartieren entwickelt haben.