Täglicher Verzicht auf das erste Glas

Vor 75 Jahren wurden die "Anonymen Alkoholiker" gegründet

10. Juni 2010

Alkoholikerin mit leeren Weinflaschen (gestelltes Foto). (Foto:  epd-bild / Cristina Fumi)

Rudi brüht in der Küche des Gemeindezentrums einen Kaffee auf, Inge stellt den Zupfkuchen auf den Tisch, schneidet ihn in Stücke. Eine Kerze brennt, daneben stehen Wasserflaschen und Kaffeetassen. Kaffee wird literweise getrunken an diesem Abend, an dem sich die Regionalgruppe der "Anonymen Alkoholiker" (AA) in Germersheim in der Pfalz trifft. "Ohne Kaffee geht nichts", sagt Rudi.

Gruppensprecher Raimund läutet mit dem Glöckchen. Jeder könne das Treffen leiten, erklärt er - jeder, der mindestens ein Jahr lang keinen Alkohol mehr angerührt hat. "Trocken" bleiben: Darum geht es, das ist das Mantra, das an diesem Abend immer wieder beschworen wird.

Vor 75 Jahren wurden die "Anonymen Alkoholiker", eine Selbsthilfe-Organisation Alkoholabhängiger, in den USA gegründet. Als Geburtsstunde gilt der 10. Juni 1935. Das war der Tag, an dem der Arzt Bob Smith aus Ohio, einer der beiden Gründer, das erste Glas Alkohol stehen ließ. Weltweit zählen die Anonymen Alkoholiker in rund 185 Ländern etwa zwei Millionen "Freunde", die zu den meist wöchentlichen Treffen, den "Meetings", kommen. 1953 entstand die erste Gruppe in Deutschland, heute gibt es im deutschsprachigen Raum rund 2.500 Gruppen.

"Die Anonymen Alkoholiker sind eine Erfolgsstory", sagt Achim Hoffmann, Referent für Suchtkrankenhilfe beim Diakonischen Werk Pfalz in Speyer. Viele Alkoholkranke hätten es mit Hilfe der Gemeinschaft geschafft, vom Alkohol loszukommen. Die Selbsthilfe von Alkoholikern sei sehr wichtig, urteilt auch die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen in Hamm, ein Dachverband von 23 Suchthilfeorganisationen. Bundesweit gibt es mehr als eine Million alkoholkranke Menschen.

Zehn Besucher haben sich an diesem Abend beim Treffen der Anonymen Alkoholiker in Germersheim versammelt. Gruppensprecher Raimund verliest zunächst die Präambel, die das Tun und Lassen der Gemeinschaft beschreibt: "Der Hauptgrund, weshalb wir hier sitzen, ist trocken zu werden und zu bleiben."

Anonymität ist Ehrensache. Name, Beruf, Herkunft der "Freunde", die sich nur mit dem Vornamen anreden, interessieren nicht. Der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören, ist die einzige Voraussetzung, um zu den Anonymen Alkoholikern zu gehören, sagt Raimund. Aus den Leidensgeschichten der anderen könne man für sich selbst Kraft und Hoffnung für ein neues Leben ohne Alkohol schöpfen.

Auch wenn die Selbsthilfevereinigung sich keiner Religion oder Konfession verbunden fühlt, herrscht doch bei den Treffen eine fast religiöse Grundstimmung. Oft gibt es eine kurze Lesung aus dem "Blauen Buch", den Grundsätzen der Anonymen Alkoholiker. Der evangelische Pfarrer Heinz Kappes aus Karlsruhe übersetzte sie Anfang der 1960er Jahre ins Deutsche, wie der trockene Trinker Klaus erzählt. Ein Zwölf-Schritte-Programm zeigt darin einen spirituellen Weg zur Genesung vom Alkoholismus auf, mit Hilfe der Abstinenz.

Zahlreiche evangelische und katholische Kirchengemeinden stellen den Selbsthilfegruppen Räume für ihre Treffen zur Verfügung. Die Organisation pocht aber auf ihre Unabhängigkeit, finanziert sich allein durch Spenden ihrer Mitglieder.

Gott - "so wie wir ihn verstehen"- ist der große Strippenzieher im Hintergrund, der den Alkohol besiegt, heißt es im "Blauen Buch". Dabei ist nicht unbedingt der Gott einer Religion gemeint, auch wenn die Nähe gerade zur christlichen Glaubenstradition deutlich ist. Immer wieder fällt das Wort "Dankbarkeit": Dank dafür, einen weiteren Tag ohne Alkohol zu leben, Dank dafür, "kapitulieren" zu dürfen. Denn aus der Niederlage erwächst die Kraft für einen Neuanfang.

"Das Leben ist so schön, wenn man nüchtern ist", weiß der frühere Trinker Rudi. Schritt für Schritt nähern sich die Alkoholabhängigen ihrem großen Ziel an, der beständigen Nüchternheit. Dabei verpflichten sie sich auch zur "inneren Inventur": Den Schaden, den man anderen zufügte, versucht man wieder gutzumachen. Der letzte Punkt des Zwölf-Schritte-Programms ist gleichsam ein missionarischer Auftrag: Die Botschaft soll an andere Alkoholiker weitergegeben werden.

Nach knapp drei Stunden ist das Treffen in Germersheim zu Ende. Wie jedes Mal stehen die Teilnehmer am Schluss von den Stühlen auf, fassen sich bei den Händen, sprechen gemeinsam ihren Gelassenheitsspruch: Akzeptiere, dass Du nicht alles ändern kannst, lautet der Inhalt. Aber versuche zu ändern, was Du ändern kannst.

"Du musst einen Glauben haben", sagt der Alkoholiker Rudi, als er die leeren Kaffeetassen zum Spülen zusammenräumt. "Einen Glauben an dich, an die Gruppe, an Gott. Dann wirst Du Deinen Frieden finden." (epd)