„Ich sehe so, wie du nicht siehst“

Verbände und Kirchen machen auf die Situation von sehbehinderten Menschen aufmerksam

04. Juni 2010

Finger, die eine Texttafel in Blindenschrift abtasten

Christoph Graf weiß nicht, wie seine Frau und seine beiden Kinder aussehen. Er kann sie sich nur vorstellen und erkennt noch schattenhaft Umrisse, doch welche Kleidung sie gerade tragen, kann er nur erahnen. Mit zwölf Jahren verlor der heute 47-jährige Mannheimer durch eine Viruserkrankung sein Augenlicht. In Deutschland leben laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) rund eine Million sehbehinderte Menschen. An diesem Sonntag werben Kirchen und Sozialverbände um mehr Verständnis für Blinde und Sehbehinderte.

Graf hat viele Jahre als Physiotherapeut gearbeitet, bis er durch einen Arbeitsunfall berufsunfähig und frühverrentet wurde. "Deshalb engagiere ich mich auch in einem Selbsthilfeverein für Blinde und Sehbehinderte", sagt er. In diesen Vereinen können sich die Mitglieder untereinander austauschen, bekommen Hilfe bei Behördengängen oder auch Informationen über neueste Techniken, die den Alltag erleichtern. "Ich habe zum Beispiel einen Computer mit Vorlesegerät und kann so meine E-Mails abrufen und abhören."

Zugleich erarbeiten die Vereinsmitglieder mit Kommunen oder Kirchen Pläne aus, wie man Barrieren für Sehbehinderte und Blinde überwinden kann. Manchmal seien es nur kleine Schritte, um den Betroffenen den Weg in Gebäude zu erleichtern. Etwa Kontraste an Stufen und Treppen, weil viele Sehbehinderte doch noch schattenhaft etwas erkennen können. Ein Problem seien nicht ausreichend abgesicherte Baustellen, Ampeln ohne Signalton oder Aufzüge ohne Sprachhinweis, weiß Graf aus eigener Erfahrung.

"Viele Menschen fühlen sich durch ihre Sehbehinderung oder Erblindung isoliert", berichtet Ingrid Haag vom Evangelischen Blinden- und Sehbehindertendienst. Die meisten Blinden seien späterblindet. Wer sehen konnte und später erst erblindete, habe vielfach eine stärker eingeschränkte Mobilität und Probleme in Beruf und Partnerschaft als Menschen, die nie sehen konnten.

Nur rund 15 Prozent aller Blinden, in der Regel die jüngeren, beherrschen die Blindenschrift. Viele Tätigkeiten, etwa einen Weg alleine zu gehen oder den Einkauf im Supermarkt zu tätigen, kosten die Betroffenen viel Konzentration und Kraft, sagt Haag. Ständig auf Hilfe von Vertrauten angewiesen zu sein oder fremde Personen um etwas bitten zu müssen, könne sehr belastend sein.

Als sehbehindert gilt, wer auf dem besseren Auge 30 Prozent oder weniger Sehrest hat. Hochgradig sehbehinderte Menschen haben auf dem besseren Auge weniger als fünf Prozent Sehkraft. Blind im Sinne des Gesetzes ist, wer auf dem besseren Auge einen Sehrest von weniger als zwei Prozent hat. (epd)