"Dann will ich auch Christ werden"

Martin Zamel, 63, ist ehrenamtlich Pastor der Deutschsprachigen Evang.-Luth. Gemeinde im bulgarischen Sofia

03. Mai 2010

Roma ziehen über Land

"Unmöglich, die krieg ich nie", schoss es mir durch den Kopf. Die Straßenbahn hielt sehr weit entfernt. Ich musste sie erreichen, sonst wäre ich zu spät zum Gottesdienst in die Stadt gekommen. Mein Koffer war schwer, ich kam zu langsam voran. Heftig winkte ich von weitem. Und tatsächlich erreichte ich hechelnd das Trittbrett. Der Straßenbahnführer hatte geschlagene fünf Minuten auf mich gewartet. So sind Bulgaren, freundlich und geduldig.

Seit 2007 wohne ich hier in einer "gated community", in der geschlossenen Wohnanlage der Deutschen Botschaft, dem früheren Diplomatenviertel der DDR. Von Mauern umgeben, mit Kameras der "Security Force" bewacht. Leider kann man sich nur so vor ungebetenen Gästen sicher fühlen. Ich fragte einen Bul­garen, warum es hier so viele Einbrecher gibt. Er sagte: "Es sind so viele Zigeuner im Land, das steckt an!" Volkes Stimme. Roma sind unbeliebt, neunzig Prozent von ihnen sind auf Sozialhilfe angewiesen. Ihr Kinderreichtum beunruhigt viele Bulgaren - als ob sie befürchten müssten, selbst bald zur Minderheit zu gehören. Laut UNICEF sind rund zehn Prozent der Bevölkerung Roma. Dass so viel eingebrochen wird, liegt in Wirklichkeit wohl eher daran, dass das Risiko, erwischt zu werden, nicht sehr hoch ist. Die juristische Verfolgung der organisierten Kriminalität funk­tioniert immer noch nicht so recht.

Es gibt praktisch zwei Bulgarien. Das eine hat Zugang zu immer mehr Wohlstand. Mancher erwirbt seinen Reichtum durch verbrecherische Transaktionen - damit meine ich vor allem die Mutri, mafiaähnliche Clans. Die weitaus meisten Bulgaren aber leben in Armut. In Sofia stehen und sitzen Bettler auf jeder Straßenseite und an jeder Ecke. Einer von ihnen reißt jeden Tag seine Beinwunde auf, damit sie frisch blutet. "Gospod zdraveda ti dava", sagen sie: "Möge dir Gott Gesundheit geben." Dabei halten sie den Passanten einen kleinen Plastikbecher entgegen.

Was Christus dazu sagen würde? "Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe", heißt es im Johannesevangelium 13,15. Es gibt hier viel zu wenige Suppenküchen. Unsere Gemeinde will auch eine aufbauen, aber das Projekt steht noch ganz am Anfang. Wir hoffen darauf, dass uns deutsche Unternehmer, die hier investieren, dabei unterstützen. Gerade alte Menschen betteln auf den Straßen, sammeln Müll oder verkaufen Blumen.

Etwa 2,2 Millionen Rentnerinnen und Rentner leben in Bulgarien, 140 Euro bekommen sie im Schnitt pro Monat, oft sogar weniger als die Hälfte. Rund 200 Euro ist das Minimum, das man zum Überleben braucht, ein Durchschnittsverdiener kommt auf 300 Euro. Lebensmittel und Medizin verteuern sich rasch. Nach einem langen Arbeitsleben bedeutet das für viele Rentner Hunger und Not. Besonders schlimm ist die Lage in den Städten.

Abends um acht auf der Graf-Ignatiev-Straße, im Zentrum von Sofia. Ende März ist es noch eisig kalt. Wer jetzt unterwegs ist, eilt nach Hause ins Warme oder in eine der Kneipen. Am Straßenrand sitzt Rada, 72 Jahre alt, das Kinn in den Mantelkragen gedrückt. Auf einem alten Pappkarton verkauft die Rentnerin Wollsocken - das Paar für 1,50 Euro. "Ich bitte die Menschen um Hilfe, doch die meisten gehen einfach vorbei", sagt sie mir. "Zwei Paar Socken habe ich heute verkauft. Ein Euro bleibt für mich." Vierzig Jahre lang hat Rada in einem staatlichen Betrieb gearbeitet. Heute bekommt sie umgerechnet 65 Euro Rente im Monat. Die reichen gerade fürs Essen. "Rada" heißt übersetzt: "Freu dich".

Einen Priester habe ich einmal gefragt, ob es in Bulgarien so etwas wie religiöse Bildung gebe. "Nein!", antwortete er überzeugt. Nur 0,7 Prozent der Schüler entscheiden sich für das Wahlfach Religion. Dennoch ist Bulgarien ein christliches Land. Deutlich über 80 Prozent der Bevölkerung sind orthodoxen Glaubens. Das ist erstaunlich, denn während der sozialistischen Staatsführung nach dem Zweiten Weltkrieg war der Atheismus die offi­zielle Doktrin. Zu den religiösen Minderheiten zählen Muslime (rund 13 Prozent), römische Katholiken (gut 1 Prozent), Protestanten und Juden (je 0,1 Prozent). Außerdem gibt es offiziell ­anerkannte Vertreter des Hinduismus, Buddhismus und verschiedene Yogabewegungen.

Unsere Gemeinde gehört also zu einer der kleinsten religiösen Minderheiten. Wir nennen uns "Deutschsprachige Evangelisch-Lutherische Gemeinde Sofia". Deutschsprachig, weil viele unserer Gemeindeglieder orthodoxe Bulgaren mit einer Vorliebe für die deutsche Kultur und Sprache sind. Eine gemeinsame Geschichte verbindet beide Länder. Nach dem Sieg über die Osmanen wählte die erste große Volksversammlung im April 1879 Prinz Alexander Josef von Battenberg im Alter von 22 Jahren zum ersten Fürsten Bulgariens. Sein Nachfolger wurde Ferdinand aus dem Hause Sachsen-Coburg-Gotha, das bis 1946 die Geschicke des Landes ­bestimmte. Noch wird man ab und zu von einem Bulgaren auf der Straße auf Deutsch angesprochen.

Mit der Bezeichnung "evangelisch-lutherisch" grenzen wir uns von Sekten ab. "Evangelisch" hat im bulgarischen Sprachgebrauch den Charakter von "sektiererisch". Also berufen wir uns auch auf Martin Luther. Aber wir verstehen uns als ökumenische Gemeinde, als Ort der Begegnung und des religiösen Dialogs. Wir haben 27 registrierte Mitglieder.

Finanziell tragen wir uns zum großen Teil durch Spenden und Mitgliedsbeiträge. Bulgarische Mitglieder zahlen 5 Leva Jahres­beitrag, etwa 2,50 Euro. Einige unserer besserverdienenden Mitglieder steuern bis zu 600 Euro bei. Zweimal im Monat treffen wir uns zum Gesprächskreis im Pastorat, einer Hochhauswohnung am Stadtrand. Jeden zweiten Sonntag im Monat feiern wir ­Gottesdienst in einem angemieteten Raum der Methodistischen Kirche in Sofias Innenstadt. Die deutschen Mitglieder arbeiten als Lehrerinnen und Lehrer, repräsentieren deutsche Firmen oder staatliche Einrichtungen. Sie sind nur für eine begrenzte Zeit hier, was unter unseren Mitgliedern zu einer hohen Fluktuation führt.

Kürzlich hatte ich zwei Nonnen in die Deutsche Schule eingeladen. Schüler der 7. Klasse hatten im Fach Geschichte das abendländische Mönchtum behandelt und wollten die Ordensfrauen interviewen. Eine von ihnen, Beate Schröter, ist Oberin im Kloster Zarevbrod im Nordosten des Landes. Auch im Nordwesten, in Bardarski Geran, sind die Benediktinerinnen aus Tutzing aktiv. Dorthin waren in den 1890er Jahren Donauschwaben aus Ungarn, dem Banat, Siebenbürgen und Russland eingewandert. Schnell dominierten sie mit ihrer Kultur und ihrem Unternehmergeist. Sie brachten den Stahlpflug nach Bulgarien, die Landwirtschaft blühte auf. Sie errichteten ein Kloster und eine deutsche Schule samt medizinischer Betreuung unter der Leitung der Benediktinerinnen. Reiche bulgarische Familien schickten ihre Kinder dorthin, Bulgariens erster Kindergarten entstand hier. Im Zweiten Weltkrieg verließen die Deutschen die Gegend. Erst 2008 gingen Kirche, Kloster und Schule wieder ins Eigentum des Benediktinerinnenordens über. Die deutsche Kirche, seit 1943 ungenutzt und vom Verfall gezeichnet, soll jetzt wieder aufgebaut werden.

Religionsunterricht an der neu gegründeten Deutschen Schule Sofia erteile ich seit 2008. In der ersten Stunde sprach mich ein Zweitklässler an: "Du bist ja ein Opa." Ich bin eben weißhaarig und umgeben von jungen Kollegen. Zwar meinen immer noch manche Bulgaren, Religion sei "Opium fürs Volk", doch die Schüler sehen das anders. Kürzlich behandelten wir in der Grundschule das Thema Passion. Alle waren ganz traurig, dass Jesus am Kreuz gestorben war. "Aber Christen glauben, dass Jesus auferstanden ist und lebt", sagte ich. "Bist du Christ?", fragte einer. "Ja", sagte ich. "Dann will ich auch Christ werden", meinte er.

Quelle: Evangelisches Monatsmagazin "chrismon"