In Anne Franks Kammer werden die Besucher still

Das Amsterdamer Anne-Frank-Haus besteht seit 50 Jahren

26. April 2010

Wegweiser zum Anne Frank Haus in Amsterdam

Die Schlange vor dem Haus an der Amsterdamer Prinsengracht 263 ist lang. Eine halbe Stunde schon warten zwei junge Schweizer. Sie schauen auf die Hausboote auf dem Wasser und die schmalen Giebel der alten Grachtenhäuser: "Das Warten ist nicht so schlimm, wir wollen das Haus unbedingt sehen." Es ist das berühmteste Hinterhaus der Welt: Hier schrieb das jüdische Mädchen Anne Frank (1929-1945) versteckt vor den deutschen Besatzern während des Zweiten Weltkriegs ihr Tagebuch. Seit 50 Jahren, seit dem 3. Mai 1960, ist das Haus ein Museum.

"Von allen Büchern, die ich gelesen habe, hat das Tagebuch der Anne Frank mich am meisten beeindruckt", sagt die 17-jährige Karin aus Bern. Vom 6. Juli 1942 bis zum 4. August 1944 lebte Anne Frank mit sieben anderen jüdischen Verfolgten in diesem Versteck, in ständiger Angst entdeckt und deportiert zu werden. In ihrem Tagebuch beschrieb Anne ihren Alltag im Hinterhaus der Prinsengracht. Das Anne-Frank-Haus umfasst heute den gesamten Häuserblock und beherbergt auch ein internationales Informationszentrum über Judenverfolgung und Rassenhass.

Jedes Jahr besuchen fast eine Million Menschen das Haus. Sie kommen aus aller Welt. "Sie war ein so starkes Mädchen", sagt der 25 Jahre alte Tim aus Texas. "Immer, wenn wir heute von Problemen reden, dann denke ich daran, wie sie ihr Schicksal gemeistert hat."

"Anne Frank", so erklärt der niederländische Historiker Herman Pleijdie die große Anziehungskraft, "hat der Tragik des Zweiten Weltkrieges ein Gesicht gegeben." Mehr noch: Das aus Frankfurt am Main stammende Mädchen wurde weltweit zum Symbol für Verfolgung und Unterdrückung.

Langsam bewegt sich die Schlange vor dem Anne-Frank-Haus vorwärts. Der Amerikaner Tim und die beiden Schweizer betreten nun das Museum, das vor gut zehn Jahren um einen modernen Glasanbau erweiterte wurde. Auf großen Schautafeln lesen sie die Geschichte der Judenverfolgung, sie sehen und hören historische Aufnahmen von Helfern der Untergetauchten und von Otto Frank, Annes Vater.

Er hatte als einziger den Holocaust überlebt. Denn die acht Verfolgten wurden verraten, im August 1944 stürmte die Gestapo das Versteck. Anne und ihre Schwester Margot starben im März 1945 im Konzentrationslager Bergen Belsen.

Im Tagebuchsaal drängen sich die Besucher vor der Vitrine mit dem kleinen karierten Buch, das Anne zu ihrem 13. Geburtstag bekam, am 12. Juni 1942. Es war ihr erstes Tagebuch. Miep Gies, die Anfang 2010 gestorbene Helferin der Untergetauchten, hatte nach der Räumung des Hauses durch die Nazis alle Aufzeichnungen gerettet.

Bisher waren die Originaltagebücher im niederländischen Dokumentationszentrum zum Zweiten Weltkrieg aufbewahrt worden. Doch nun sind sie wieder in das Anne-Frank-Haus zurückgekehrt.

"Anne Frank war nicht nur Hitlers Opfer, sondern auch Schriftstellerin", sagt der Direktor der Anne-Frank-Stiftung, Hans Westra. Das Tagebuch - es wurde in fast 70 Sprachen übersetzt und erschien in gut 30 Millionen Exemplaren - habe eine ungeheure Kraft. "Junge Leute sehen: Sie war stark und hatte Hoffnung."

Ein langer schmaler Gang verbindet das Vorder- und Hinterhaus. Hinter einem drehbaren Bücherregal verbirgt sich die steile Stiege zu dem Versteck der Verfolgten. Oben, in den engen Zimmern, ist es schummrig. An der Wand hängt noch die Karte von der Normandie, auf der die Familien das Vorrücken der alliierten Truppen verfolgten. Auf der Tapete hielten sie mit Bleistiftstrichen fest, wieviel die Kinder in all den Monaten gewachsen waren.

Im Innenhof steht die große Kastanie, die Anne so viel Trost spendete, wie sie schrieb. Der kranke Baum wurde erst kürzlich mit einer komplizierten Konstruktion gerettet.

Die deutschen Besatzer hatten das Haus nach der Deportation der Bewohner komplett geräumt, und auf Wunsch von Otto Frank wurde es nie wieder eingerichtet. Tische und Stühle sind auch nicht nötig, um sich die Enge und Angst vorzustellen. "Es ist schon krass", sagt die 15-jährige Katharina aus Unna. "Ich würde lieber sterben, als immer so in einer Ecke zu hocken und nicht zu wissen, was morgen passiert."

In Annes einstigem Zimmerchen hängen noch Fotos ihrer Lieblingsstars an der Wand. Hier werden die Besucher still. Man hört nur noch die Schritte auf den Holzdielen, ab und zu gedämpftes Flüstern und das Glockenspiel vom Turm der Westerkerk, der benachbarten alten Kirche. Für den deutschen Schüler Jan ist das Zimmer ein Ort der Geschichte. "Hier kommt es einem sehr nah", sagt er beim Hinausgehen, "sie war ja nur zwei Jahre jünger als ich."