Der Mensch erkennt sich nur im Menschen

Die Vielfalt Istanbul entdecken – in der evangelischen Kreuzkirche

16. April 2010

Präses Katrin Göring-Eckardt

YüzBinYüz („100000 Gesichter“ oder „100100“) ist ein Photoarchiv-Projekt des Photografen Necat Nazaroglu, bei dem unter dem Motto ‘Der Mensch erkennt sich nur im Menschen’ (J.W. Goethe) Menschen als Vollportrait vor weißem Hintergrund mit positivem Gesichtsausdruck abgebildet werden. Auf diese Weise soll in der Tradition des deutschen Photographen August Sander ein Archiv der Menschen des 21. Jahrhunderts entstehen. Durch Ausstellungen, bei denen die abgelichteten Personen möglichst lebensgroß dargestellt werden, sollen Menschen, die in verschiedenen Regionen der Welt leben, einander bekannt gemacht werden. Der Betrachter kann mit seinen Mitmenschen ungestörten Blickkontakt aufnehmen.

Der weiße Hintergrund und der Verzicht auf Farbe hebt die Menschen von der Umgebung und somit ablenkenden Einflüssen ab. Lediglich Kleidung und Attribute geben Hinweise. Auf Angaben zu ethnischer oder religiöser Herkunft wird bewusst verzichtet. Bis jetzt umfasst das Archiv 5000 Bilder. Mit dem mobilen Photostudio wurden bislang so unterschiedliche Einrichtungen wie Schulen, Altenheime oder Universitäten besucht - oder die Ausrüstung wurde einfach auf der Straße aufgebaut.

In der Kreuzkirche wird jetzt in sieben lebensgroßen und über dreißig Kleinportraits Menschen ein Ausschnitt aus der faszinierenden Vielfalt der Menschen, die in Istanbul leben gezeigt. Die Betrachter können Blickkontakt mit den Portraitierten aufnehmen, können sich von ihnen ansprechen lassen und mit ihnen die Vielfalt der Bewohner dieser Stadt entdecken.

Es ist dieses Gespräch, dieser Dialog mit der Kunst, um den es Pfarrer Holger Nollmann geht, wenn die Gemeinde eine Kunstausstellung in der Kreuzkirche realisiert. Sie will nicht Galerie spielen, und auch nicht die Kreuzkirche zu einer Kunsthalle machen, sondern sie will dem gemeinsamen Interesse von Kunst und Kirche an der Sinnreflexion in der Gesellschaft insgesamt und am Dialog darüber einen angemessenen Raum geben.

Auch die Bilder dieser Ausstellung sind ein sichtbarer und wahrnehmbarer Bestandteil dieses Dialogs, jetzt des Dialogs über die einzigartige Vielfalt der Stadt Istanbul und ihrer Bewohner – ein Dialog, der weitergeht und an dem eben auch die Gemeinde der Kreuzkirche beteiligt ist.

Dass dies alles im Raum nicht einer Galerie, sondern einer Kirche geschieht, verleiht dem Ganzen einen ganz besonderen Ausdruck. Bilder, die Menschen zeigen, die in dieser Stadt leben, werden präsentiert im Raum einer christlichen Gemeinschaft, die hier zusammenkommt, um in Spiritualität, Ritual, Sammlung, Feier und Meditation Gott in besonderer Weise zu begegnen. Das kann sowohl den neutralen Betrachter, der nicht selbst Teil dieser Gemeinschaft ist, in seiner Betrachtung inspirieren, als auch die Mitglieder der Gemeinschaft selber.

Die Ausstellung will inspirieren, anregen, will verschiedene Aspekte eines wichtigen Themas bewusst erlebbar machen. Die Türkei ist ein Land, das sich seiner Vielfältigkeit nur sehr langsam wieder bewusst wird. Pfarrer Holger Nollmann hofft, dass es nicht nur an den Begleiterscheinungen des Kulturhauptstadtjahres liegt, dass sich die Anzeichen dafür zu mehren scheinen, dass die Türkei allmählich zu einer Republik werden könnte, in der die kulturellen und religiösen Unterschiede stärker hervortreten und anerkannt werden: „Hoffen wir also, dass in diesen Jahren die Türkische Republik einen solchen Übergang von Gleichheit, verstanden als «Gleichartigkeit», hin zu Gleichheit, verstanden als «Gleichwertigkeit in der Unterschiedlichkeit», vollzieht.“

Nach dem Besuch der Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Kreuzkirche kurz vor Ostern konnte die Gemeinde zur Ausstellungseröffnung eine weitere prominente Protestantin aus Deutschland begrüßen: die Präses der Synode der EKD, Katrin Göring-Eckardt, die auch gleich in das YüzBinYüz Projekt aufgenommen wurde.